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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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wahnsinnig bin?
    Schafft diese Röcke weg! Es war so sehr wie bei den Nonnen!
    »Michael!«
    Er tastete unter dem Tuch herum – wo? – leicht zu sagen, denn da lag die älteste, eine bloße Stockpuppe, und an der übernächsten das Blondhaar Charlottes, und das bedeutete, das zierliche kleine Ding dazwischen war seine Deborah. Kleine Käfer krabbelten darunter weg, als er sie anrührte. Ihr Haar löste sich auf, o Gott, sie zerfällt, sogar die Knochen werden zu Staub. Und von Grauen erfüllt wich er zurück. Sein Finger hatte einen Eindruck auf dem Knochengesicht hinterlassen. Die Glut eines Feuers erfaßte ihn; er konnte es riechen. Ihr Körper lag zusammengefallen wie ein Ding aus Wachs ganz oben auf dem Scheiterhaufen, und diese Stimme befahl ihm auf französisch, etwas zu tun – aber was?
    »Deborah«, bat er, berührte sie wieder, berührte das kleine, zerfranste Kleid aus Samt. »Deborah!« Sie war so alt, daß sein Atem sie davonwehen würde. Stella lachte, Stella hielt sie fest. »Sprich mit mir«, sagte sie mit fest geschlossenen Augen, und der junge Mann neben ihr lachte. »Du glaubst doch nicht im Ernst, daß das funktionieren wird?«
    Was wollt ihr von mir?
    Die Röcke drängten ringsum näher, Stimmen mischten sich, französisch und englisch. Er versuchte, Julien diesmal zu fassen. Aber es war, als wollte man einen Gedanken zu fassen bekommen, eine Erinnerung, etwas, das einem durch den Kopf huschte, während man Musik hörte. Seine Hand lag auf der kleinen Deborah-Puppe, zermalmte sie in der Truhe, und die blonde Puppe rollte gegen ihn. Ich zerstöre sie!
    »Deborah!«
    Nichts, nichts.
    Was habe ich getan, daß du es mir nicht sagen willst?
    Rowan rief ihn, schüttelte ihn; fast hätte er sie geschlagen.
    »Hör auf!« schrie er. »Sie sind alle hier, hier in diesem Haus! Siehst du es nicht? Sie warten, sie… sie… es gibt ein Wort dafür, sie schweben hier… an die Erde gefesselt!«
    Wie stark sie war. Sie wollte nicht aufhören. Sie zog ihn hoch. »Laß mich los.« Er sah sie alle, wohin er auch schaute, als wären sie eingewoben in einen Schleier, der im Wind wehte.
    »Michael, hör auf, es ist genug, hör doch auf…«
    Muß raus hier. Er griff nach dem Türrahmen. Als er zurück auf das schaute, sah er nur die Packkisten. Er starrte die Bücher an. Die Bücher hatte er nicht berührt. Der Schweiß strömte ihm übers Gesicht, über die Kleider, schau dir die Kleider an, er strich mit nackten Händen über sein Hemd, zitterte, Rowan für einen Augenblick, und dann schimmerten sie wieder alle um ihn herum, aber er konnte ihre Gesichter nicht sehen, und er hatte es satt, nach ihren Gesichtern zu suchen, hatte die saugenden, auslaugenden Gefühle satt, die ihn durchzogen. »Ich kann es nicht, verdammt!« brüllte er. Es war, als sei er unter Wasser; selbst die Stimmen, die er hörte, als er sich die Hände auf die Ohren preßte, klangen unstet und hohl wie Stimmen unter Wasser. Und der Gestank, man konnte ihm einfach nicht entgehen. Der Gestank aus den Gläsern, die dort warteten, die Gläser…
    Ist es das, was du wolltest: daß ich herkomme und die Dinge anrühre und daß ich sie verstehe und erkenne? Deborah, wo bist du?
    Lachten sie über ihn? Eugenia mit ihrem Staubwedel. Nicht du! Weg mit dir. Ich will die Toten sehen, nicht die Lebenden. Und das war Juliens Lachen, oder? Jemand weinte deutlich hörbar, ein Baby weinte in der Wiege, und eine dumpfe, leise Stimme, die auf englisch fluchte, ich bringe dich um, bringe dich um, bringe dich um.
    »Es ist genug, hör auf, du darfst nicht…«
    »Nein, es ist nicht genug. Die Gläser sind dort. Es ist nicht genug. Laß es mich jetzt tun, ein für allemal, mit allem.«
    Er stieß sie beiseite, wiederum erstaunt über die Kraft, mit der sie versuchte, ihn aufzuhalten, und drückte die Tür zum Zimmer mit den Gläsern auf. Wenn sie nur endlich den Mund halten wollten, wenn nur das Baby zu weinen, wenn nur die Alte zu fluchen aufhören wollte, und diese Französisch sprechende Stimme… »Ich kann nicht…«
    Die Gläser.
    Der Gestank war mörderisch. Aber er kann dich nicht umbringen. Er kann dir in Wirklichkeit nichts anhaben. Schau hin. Und im verschwommenen, häßlichen Licht legte er die Hand an das trübe Glas, und zwischen seinen gespreizten Fingern sah er ein Auge, das ihn anglotzte. »Gott« – es ist ein menschlicher Kopf, aber was kam von dem Glas selbst durch seine gemarterten Finger, nichts, nichts als Bilder so matt, wie das Ding darin

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