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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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ihr Blick langsam hinüber zu Ryan, der jetzt von neuem das Wort ergriff.
    »Unsere philanthropischen Unternehmungen haben den Bereich der Medizin per se in der Vergangenheit nicht umfaßt. Die Mayfair-Stiftung legt das Schwergewicht ihres Engagements eher auf die Geisteswissenschaften und die Erziehung, hier vor allem auf das Bildungsfernsehen; wir unterhalten Stipendienfonds an mehreren Universitäten, und natürlich spenden wir enorme Summen durch etliche von der Stiftung unabhängige, etablierte Wohltätigkeitsverbände…«
    »Wie so etwas läuft, weiß ich«, sagte sie ruhig. »Aber wir reden hier von Milliarden, und Krankenhäuser, Kliniken und Laboratorien sind ertragsbringende Unternehmen. Ich dachte eigentlich weniger an die philanthropische Seite der Angelegenheit. Ich dachte an einen kompletten Unternehmensbereich, der eine beträchtliche wohltätige Wirkung auf das Leben von Menschen haben könnte.«
    Wie seltsam kalt und erregend dieser Augenblick war. Und wie sehr er ihr allein gehörte. Ganz wie beim erstenmal, als sie an den OP-Tisch getreten war und die feinen Instrumente selbst in den Händen gehalten hatte.
    »Wir haben nicht die Tendenz, uns in medizinischer Richtung zu betätigen«, sagte Ryan mit einem Ton, der endgültig klang. »Das Gebiet würde intensive Studien erfordern, es würde eine völlige Umstrukturierung notwendig machen… und, Rowan, ist dir klar, daß dieses Netz von Investitionen, wenn ich es einmal so nennen darf, sich im Laufe eines ganzen Jahrhunderts entwickelt hat? Es handelt sich nicht um ein Vermögen, das durch einen Crash auf dem Silbermarkt verloren gehen kann oder wenn Saudiarabien die Welt mit kostenlosem Öl überschwemmt. Die Rede ist hier von einem diversifizierten Unternehmen, das in den Annalen der Finanzwelt nahezu einzigartig dasteht, und von sorgfältig geplanten Manövern, die sich in zwei Weltkriegen und zahllosen kleineren Krisen als gewinnbringend erwiesen haben.«
    »Das ist mir klar«, sagte sie. »Ich verstehe es wirklich. Aber ich will darüber informiert werden. Ich will alles wissen. Ich kann mit den Unterlagen anfangen, die ihr der Steuerbehörde vorlegt, und von da aus kann ich weitermachen. Vielleicht will ich so etwas wie eine Lehre absolvieren – eine Reihe von Konferenzen, in denen wir die verschiedenen Bereiche unseres Engagements besprechen. Vor allem will ich Statistiken haben, denn Statistiken sind letzten Endes die Realität…«
    Wieder das Schweigen, die innere Konfusion, die Blicke, die aneinander abprallten. Wie klein und eng es im Raum geworden war.
    »Willst du meinen Rat hören?« fragte Randall; seine Stimme klang tiefer und rauher als Ryans, aber nicht minder geduldig in ihrer sanften Südstaatenmelodik. »Du bezahlst ja dafür; also kannst du ihn dir auch anhören.«
    Sie spreizte die Hände. »Bitte.«
    »Geh zurück in die Neurochirurgie. Beziehe ein Einkommen, mit dem du alles bezahlen kannst, was du jemals brauchen wirst, und schlag’s dir aus dem Kopf, verstehen zu wollen, woher das Geld kommt. Es sei denn, du willst nicht länger Ärztin sein, sondern werden, was wir sind: Leute, die ihr Leben auf Vorstandssitzungen verbringen, in Gesprächen mit Investmentberatern und Brokern und anderen Anwälten und Buchhaltern mit kleinen Additionsmaschinen – ein Leben, für das du uns bezahlst.«
    Sie betrachtete ihn: sein dunkelgraues, zerzaustes Haar, seine schläfrigen Augen, die großen faltigen Hände vor ihm auf dem Tisch. Ein netter Mann. Ja, ein netter Mann. Einer, der nicht lügt. Keiner von ihnen ist ein Lügner. Und sie sind auch keine Diebe. Die intelligente Verwaltung dieses Geldes erfordert ihr ganzes Geschick und bringt ihnen einen Verdienst, von dem sich jemand mit einem Faible fürs Stehlen nichts träumen läßt.
    Aber sie sind alle Rechtsanwälte, sogar der junge Pierce mit der Porzellanhaut ist Rechtsanwalt, und Rechtsanwälte haben eine Definition von Wahrheit, die bemerkenswert flexibel ist und im Widerspruch zu allen sonst vertretenen Definitionen stehen kann.
    Sie schaute hinaus auf den Fluß. Für einen Moment hatte die Erregung sie überwältigt. Sie wollte, daß die Wärme in ihrem Gesicht wieder erstarb. Erlösung, flüsterte sie in der Tiefe ihrer Seele. Es war nicht wichtig, daß sie es verstanden. Wichtig war, daß sie selbst es verstand und daß sie nichts vor ihr verbargen und daß ihnen, wenn ihnen die Dinge aus der Hand genommen wurden, kein Leid und keine Kränkung widerfuhr, sondern daß auch

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