Hexenstunde
spätestens um sechs. »Bitte behalte Aaron bei dir und geh nicht allein hinüber ins Haus.« Und sie unterschrieb »In Liebe«.
»Ich will dich heiraten«, sagte sie laut, als sie den Zettel auf den Nachttisch legte. Er schnarchte leise ins Kissen. »Der Erzengel und die Hexe«, sagte sie noch lauter. Er schlief weiter. Sie riskierte einen Kuß auf seine nackte Schulter, befühlte sanft den Muskel in seinem Oberarm, der so unwiderstehlich auf sie wirkte, ging hinaus und schloß die Tür hinter sich.
Die kleinen, anheimelnden Backsteinhäuser der Carondelet Street glitten in wunderlicher Lautlosigkeit vorüber. Der Himmel glänzte wie polierter Staub hinter dem köstlichen Wolkenbruch; der Blitz öffnete eine Ader in diesem Stein, und der Donner knatterte bedrohlich und erstarb dann.
Schließlich gelangten sie in eine Region blitzender Wolkenkratzer. Zwei Straßen weit ging es durch ein strahlendes Amerika, und dann folgte eine Tiefgarage, wie es sie überall auf der Welt gab.
Nichts Überraschendes fand sich in den geräumigen Büros von Mayfair und Mayfair im dreißigsten Stock mit ihrer traditionellen Einrichtung und dem dicken Teppichboden – nicht einmal die Tatsache, daß zwei der hier versammelten Mayfair-Anwälte Frauen und einer ein sehr alter Mann waren oder daß der Blick durch die hohen Glasfenster zum Fluß hinausging: grau wie der Himmel, betupft mit interessanten Kähnen und Lastschiffen unter dem Silberschleier des Regens.
Dann Kaffee und Konversation der unverbindlichsten und frustrierendsten Sorte mit dem weißhaarigen Ryan. Seine hellblauen Augen waren undurchsichtig wie Murmeln. Ohne Ende, wie es schien, redete er von »beträchtlichen Investitionen« und »langfristigen Holdings«, von »Liegenschaften, die seit über einem Jahrhundert im Besitz der Familie« waren, von konservativen Anlagevermögen, »größer, als du vielleicht erwartest«.
Sie wartete; sie mußten ihr doch mehr zu eröffnen haben – sie mußten. Und wie ein Computer begann sie, die kostbaren Namen und Details zu analysieren, als sie endlich anfingen, sie zu nennen.
Da kam es, endlich, und in Gedanken sah sie die Kliniken und Krankenhäuser schon vor sich, obgleich sie regungslos, ausdruckslos sitzenblieb und Ryan weiterreden ließ.
Ganze Blocks von Immobilien im Innenstadtbereich von Manhattan und Los Angeles? Die Majorität an einer weltweiten Hotelkette? Einkaufszentren in Beverly Hills, Coconut Grove, Boca Raton und Palm Beach? Wohnkomplexe in Miami und Honolulu? Und noch einmal die Erwähnung »sehr großer« Anlagevermögen in Schatzbriefen, Schweizer Franken und Gold.
Ihre Gedanken schweiften ab, aber nie sehr weit. Aarons Schilderungen in der Akte waren also völlig zutreffend gewesen. Er hatte ihr ein umfassendes Bild von Kulisse und Proszenium dieses kleinen Dramas gemalt. Ja, er hatte ihr Informationen an die Hand gegeben, von denen sich diese Anwälte mit ihren sauberen Gesichtern und den hellen, pastellfarbenen Büroanzügen keine Vorstellung machten.
Schweigend trank sie ihren Kaffee. Ihr Blick wanderte über die anderen Mayfairs, die ebenfalls schweigend dasaßen, während Ryan fortfuhr, sein vages Bild von Kommunalobligationen, Ölpachtverträgen, vorsichtigen Investitionen in der Unterhaltungsindustrie und seit neuestem auch im Bereich der Computertechnologie zu zeichnen. Ab und zu nickte sie und machte eine kurze Notiz mit ihrem silbernen Stift.
Ja, natürlich war ihr klar, daß die Firma seit über einem Jahrhundert alle diese Geschäfte führte. Dafür verdiente sie ein Kopfnicken und ein von Herzen kommendes Murmeln. Julien hatte die Firma zu diesem Zweck gegründet. Und natürlich konnte sie sich leicht vorstellen, wie das Vermächtnis mit den Finanzen der Familie insgesamt verwoben war – »selbstverständlich ausschließlich zum Nutzen des Vermächtnisses. Denn das Vermächtnis ist das Höchste und Wichtigste. Aber tatsächlich hat es da nie einen Konflikt gegeben; von einem Konflikt überhaupt zu sprechen, wäre eine Fehleinschätzung des wahren Maßstabs…«
»Ich verstehe schon.«
»Wir haben stets einen konservativen Ansatz gepflegt, aber um vollständig zu erfassen, was ich damit sagen will, muß dir klar sein, was ein solcher Ansatz bedeutet, wenn von einem Vermögen dieses Umfangs die Rede ist. Du könntest realistischerweise in den Kategorien eines kleinen ölproduzierenden Staates denken, und damit übertreibe ich nicht; dazu kommt eine Politik, die darauf ausgerichtet ist,
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