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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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wurde.
    Was immer sie sonst noch empfand, sie sollte jetzt still um die alte Frau trauern. Sie sollte das Elend in ihre Seele lassen. Und die Frau würde jetzt für allezeit tot sein. Oder etwa nicht?
    Die Wahrheit war, daß ihr so schnell hintereinander so viel zustieß, daß sie ihre Reaktionen nicht mehr zu sortieren wußte – daß sie im Grunde überhaupt keine Reaktionen mehr an den Tag legen konnte. Sie fiel von einer Emotion in die andere. Gestern, als Michael mit rasendem Puls und rotem Gesicht auf dem Bett gelegen hatte, war sie in Panik geraten. Wenn ich diesen Mann verliere, hatte sie gedacht, dann werde ich mit ihm sterben, das schwöre ich. Und eine Stunde später hatte sie ein Glas nach dem anderen zerbrochen, den Inhalt in eine weiße Spülschüssel gegossen und mit einem Eispickel darin herumgestochert, um alles zu untersuchen, ehe sie es Aaron überlassen hatte, damit er es in Eis verpackte. Mit klinischer Gelassenheit wie jede andere Ärztin. Völlig gleichmütig.
    Und zwischen diesen Augenblicken der Krise trieb sie dahin, beobachtete alles, prägte es sich ein, denn es war alles zu neu, zu ungewöhnlich und letzten Endes auch zuviel.
    Heute morgen war sie um vier Uhr aufgewacht und hatte nicht gewußt, wo sie war. Dann war ihr alles wieder eingefallen, die wilde Flut von Flüchen und Segenssprüchen, ihr Traum von den Kliniken, und Michael neben ihr und ihr Verlangen nach ihm wie nach einer Droge.
    Sie hatte im Bett gesessen und die Arme um die Knie geschlungen, und sie hatte sich gefragt, ob dies für eine Frau nicht irgend wie schlimmer war als für einen Mann, weil eine Frau an einem Mann noch die kleinste Kleinigkeit erotisch finden konnte – etwa die Art, wie seine Locken jetzt zerdrückt an seiner Stirn klebten oder wie sie sich in seinem Nacken kräuselten.
    Sahen Männer nicht alles ein wenig direkter? Verfielen sie in Raserei beim Anblick eines weiblichen Knöchels? Dostojewski hatte so etwas behauptet, nicht wahr? Aber sie hatte es bezweifelt. Es war eine Pein für sie, das dunkle Vlies an Michaels Handgelenk zu sehen; zu sehen, wie sich das goldene Armband seiner Uhr dort hineinschnitt, sich diesen Arm später vorzustellen, mit hochgerolltem weißen Hemdärmel, was aus irgendeinem Grund so sexy aussah wie nicht einmal der nackte Arm. Die Bewegung seiner Finger, wenn er sich eine Zigarette anzündete. Alles von unmittelbarer, genitaler Erotik. Alles so schneidend und voller Wucht. Oder seine tiefe, grollende Stimme, voller Zärtlichkeit, wenn er mit seiner Tante Viv telephonierte.
    Als er in dieser stinkenden, scheußlichen Kammer auf den Knien gelegen hatte, da hatte er gekämpft, um sich geschlagen. Und nachher, auf dem staubigen Bett, war er ihr in seiner Erschöpfung unwiderstehlich erschienen, wie seine großen, starken Hände gekrümmt und leer auf der Decke gelegen hatten. Sie hatte seinen dicken Ledergürtel aufgenestelt, den Reißverschluß seiner Jeans, und es war erotisch gewesen, daß dieses kraftvolle Geschöpf plötzlich abhängig von ihr war. Aber dann hatte das Entsetzen sie gepackt, als sie seinen Puls gefühlt hatte.
    Lange und angespannt hatte sie bei ihm gesessen, bis sein Puls sich normalisiert und seine Haut sich abgekühlt hatte. Bis er in normalen Schlaf gefallen und regelmäßig geatmet hatte. Von so rauher, makelloser Schönheit war er gewesen; das weiße Unterhemd hatte sich straff über seine Brust gespannt – einfach ein wirklicher Mann und zugleich so köstlich geheimnisvoll für sie mit dem dunklen Haar auf der Brust und an der Oberseite seiner Arme, mit den Händen, die so viel größer waren als die ihren.
    Nur seine Angst konnte ihre Leidenschaft abkühlen, und seine Angst war nie von sehr langer Dauer.
    Heute morgen hatte sie ihn wecken wollen, indem sie seinen Schwanz in den Mund nahm. Aber nach allem, was geschehen war, brauchte er jetzt seinen Schlaf. Er brauchte ihn dringend. Sie betete nur darum, daß er in seinen Träumen Frieden finden möge.
    Und jetzt, zwei Stunden später, als der Regen fiel und ihr Frühstück kalt wurde, saß sie träumend da und betrachtete im Geiste die Vergangenheit und all die Möglichkeiten und dachte auch an die entscheidende Konferenz, die bald beginnen würde.
    Das Telephon schreckte sie auf. Ryan und Pierce warteten im Foyer, um mit ihr in die City zu fahren.
    Rasch schrieb sie einen Zettel für Michael: Sie sei in familiären Rechtsangelegenheiten unterwegs und werde bis zum Abendessen wieder zurück sein,

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