Hexenstunde
sie erlöst wurden.
»Auf wieviel beläuft es sich insgesamt?« fragte sie, ohne den Blick vom Fluß zu wenden, von dem langen, dunklen Lastkahn, der von einem schäbigen, stumpfnasigen Schubboot stromaufwärts gedrückt wurde.
Schweigen.
»Du betrachtest das Ganze falsch«, sagte Randall. »Es ist ein einziges großes Geflecht von…«
»Das kann ich mir vorstellen. Aber ich möchte es wissen, und das könnt ihr mir nicht übelnehmen. Wieviel ist es?«
Keine Antwort.
»Aber ihr müßt es doch schätzen können.«
»Nun, das würde ich nicht gern tun, denn es wäre vielleicht völlig unrealistisch, wenn man es so betrachtet, daß…«
»Siebeneinhalb Milliarden«, sagte sie. »Das ist meine Schätzung.«
Ausgedehntes Schweigen. Unbestimmter Schrecken. Sie war sehr nah an die Sache herangekommen, nicht wahr?
Jetzt war es Lauren, die antwortete, Lauren, deren Miene sich kaum merklich verändert hatte, als sie jetzt an den Tisch heranrückte und ihren Bleistift mit beiden Händen umfaßte.
»Du hast ein Anrecht auf diese Information«, sagte sie mit einer zarten, beinahe stereotyp weiblichen Stimme, die zu ihrem sorgfältig frisierten blonden Haar und den Perlohrclips paßte. »Du hast jede gesetzliche Berechtigung, zu wissen, was dir gehört. Und ich spreche nicht nur für mich selbst, wenn ich sage, daß wir vorbehaltlos mit dir zusammenarbeiten werden, denn dazu sind wir ethisch verpflichtet. Aber ich muß persönlich sagen, daß ich deine Einstellung eher moralisch interessant finde. Ich begrüße die Gelegenheit, mit dir über jeden Aspekt des Vermächtnisses zu sprechen, bis in alle Einzelheiten. Ich fürchte nur, daß du dieses Spiel leid sein wirst, lange bevor alle Karten auf dem Tisch liegen. Aber ich bin durchaus bereit, die Initiative zu ergreifen und den Anfang zu machen.«
War ihr eigentlich klar, wie überaus herablassend das alles klang? Rowan bezweifelte es. Aber schließlich hatte das Vermächtnis diesen Leuten mehr als fünfzig Jahre lang gehört, nicht wahr? Sie hatten ein bißchen Geduld verdient. Und doch brachte sie es nicht recht über sich, ihnen zu geben, was sie verdienten.
»Tatsächlich gibt es für keinen von uns eine andere Möglichkeit«, stellte sie fest. »Es ist nicht bloß moralisch interessant, daß ich wissen will, um was es geht. Es ist moralisch unerläßlich, daß ich es erfahre.«
Die Frau zog es vor, nicht zu antworten. Ihre zarten Züge bewahrten ihre Gelassenheit, ihre kleinen, blassen Augen weiteten sich leicht, und ihre schmalen Hände, die den Bleistift an beiden Enden festhielten, zitterten kaum. Die anderen am Tisch beobachteten sie, wenngleich jeder auf seine Art versuchte, es zu verbergen.
Und Rowan erkannte: Dies ist das Gehirn hinter der ganzen Firma, diese Frau, Lauren. Und die ganze Zeit hatte sie geglaubt, es sei Ryan. Stumm gestand sie sich diesen Fehler ein, und sie fragte sich, ob die Frau möglicherweise wahrnehmen konnte, was sie dachte.
»Darf ich dir eine Frage stellen?« sagte die Frau und sah Rowan geradewegs in die Augen. »Es ist eine rein geschäftliche Frage, wohlgemerkt.«
»Selbstverständlich.«
»Kannst du es ertragen, reich zu sein? Ich meine, wirklich reich? Wirst du damit fertig?«
Rowan fühlte sich versucht zu lächeln. Es war eine so erfrischende Frage, und wiederum auch so herablassend und beleidigend. Eine Menge Antworten kamen ihr in den Sinn. Aber sie begnügte sich mit der einfachsten.
»Ja«, sagte sie. »Und ich möchte Krankenhäuser bauen.«
Schweigen.
Lauren nickte. Sie verschränkte die Arme auf dem Tisch, und ihr Blick erfaßte die ganze Versammlung. »Nun, da sehe ich überhaupt kein Problem«, sagte sie. »Scheint mir eine interessante Idee zu sein. Und wir sind selbstverständlich dazu da, zu tun, was du willst.«
Jawohl, sie war das Hirn der Firma. Und sie hatte Ryan und Randall erlaubt, das Reden zu übernehmen. Aber sie war diejenige, die hier die Lehrerin und schließlich auch das Hindernis sein würde.
»Ich denke, wir können jetzt über die unmittelbaren Probleme reden, meint ihr nicht?« sagte Rowan. »Man muß im Haus eine Inventur der einzelnen Gegenstände vornehmen, oder? Ich glaube, irgend jemand hat so etwas erwähnt. Dann sind da Carlottas Sachen, gibt es jemanden, der sie holen möchte?«
»Ja«, sagte Ryan, »und was das Haus angeht – hast du eine Entscheidung getroffen?«
»Ich möchte es restaurieren. Ich möchte darin wohnen. Ich werde demnächst Michael Curry heiraten.
Weitere Kostenlose Bücher