Hexenstunde
mußten. Bewahren, was sie hatten und was sie wollten – das alles bewahren in der dunklen Strömung, die sie zueinander geführt hatte. Und wenn er an die kommenden Jahre dachte – an all die einfachen und herzzerreißend wichtigen Möglichkeiten -, dann war sein Glück so groß, daß es keinen Ausdruck dafür gab.
Als sie ins Schlafzimmer zurück kehrten, sagte sie, sie wolle die Hochzeitsnacht im Haus verbringen und dann für die Flitterwochen nach Florida fahren. Wäre das nicht das Beste? Eine Hochzeitsnacht unter diesem Dach, und danach verschwinden?
Sicher könnten die Handwerker doch das vordere Schlafzimmer in zwei Wochen fertig haben.
»Dafür garantiere ich«, sagte er.
In dem großen antiken Bett im vorderen Zimmer. Fast konnte er hören, wie Beiles Geist sagte: »Wie reizend für euch beide.«
37
Unruhiger Schlaf. Sie drehte und wendete sich, legte den Arm auf seinen Rücken, zog die Knie unter seine, spürte, wie es ihr wieder warm und behaglich wurde. Die Klimaanlage war fast so gut wie der Wind am Golf von Florida.
Aber was zog da an ihrem Hals, verhedderte sich in ihrem Haar, tat ihr weh? Sie wollte es abstreifen, aus dem Haar schieben. Etwas Kaltes lag schwer auf ihrer Brust. Es störte sie.
Sie drehte sich auf den Rücken, und im Halbtraum stand sie wieder im OP, und dies war eine höchst schwierige Prozedur. Sie mußte sich sorgfältig vor Augen führen, was sie zu tun gedachte – ihre Hände bei jedem Schritt mit dem Geist führen, dem Blut befehlen, nicht zu fließen, dem Gewebe befehlen, zusammen zu wachsen. Und der Mann lag vor ihr, aufgespalten von den Leisten bis zum Schädel hinauf, und alle seine winzigen Organe waren freigelegt, zitternd, rot, unmöglich klein für seine Größe, und warteten darauf, daß sie sie wachsen ließ.
»Das ist zuviel, das kann ich nicht«, sagte sie. »Ich bin Neurochirurgin und keine Hexe!«
Sie sah jetzt jedes Blutgefäß in seinen Beinen und Armen, als sei er eine von diesen durchsichtigen Plastikpuppen, die von lauter roten Adern durchzogen waren und mit denen man Kindern demonstrierte, wie der Blutkreislauf funktionierte. Seine Füße bebten. Auch sie waren zu klein für seinen Körper, und er wackelte mit den Zehen, um sie zum Wachsen zu bringen. Wie ausdruckslos sein Gesicht war – aber er sah sie an.
Und wieder das Zerren in ihren Haaren – etwas zog an ihren Haaren. Wieder wollte sie es wegschieben, und diesmal bekamen ihre Finger es zu fassen – was war es, eine Kette?
Sie wollte den Traum nicht verlieren. Sie wußte jetzt, daß es ein Traum war, aber sie wollte wissen, was aus diesem Mann wurde und wie diese Operation enden sollte.
»Dr. Mayfair, legen Sie Ihr Skalpell beiseite«, sagte Dr. Lemle. »Sie brauchen es nicht mehr.«
»Nein, Dr. Mayfair«, sagte Lark. »Sie können es hier nicht benutzen.«
Sie hatten recht. Der Augenblick für etwas so Grobes wie die winzige, blitzende Stahlklinge war verstrichen. Hier ging es nicht mehr ums Schneiden, sondern ums Konstruieren. Sie starrte auf die lange offene Wunde, auf die winzigen Organe, die bebten wie Pflanzen, wie die monströse Iris im Garten. Die entsprechenden Spezifikationen schwirrten ihr durch den Kopf, als sie die Zellen lenkte und gleichzeitig den jungen Ärzten alles erklärte, damit sie es auch verstanden. »Es sind genügend Zellen vorhanden, sehen Sie, sogar im Überfluß. Es kommt darauf an, sie gewissermaßen mit einer höherwertigen DNS zu versorgen, mit einem neuen und unvorhergesehenen Anreiz zur Bildung von Organen in der richtigen Größe.« Und siehe, die Wunde schloß sich über Organen in der richtigen Größe, und der Mann drehte den Kopf, und seine Augen klappten auf und zu wie die einer Puppe.
Applaus erhob sich rings umher, und als sie aufblickte, sah sie überrascht, daß es lauter Holländer waren, die hier in Leiden versammelt waren; auch sie selbst trug den großen schwarzen Hut und die prächtigen weiten Ärmel, und das Ganze war natürlich ein Gemälde von Rembrandt, Die Anatomie, und nur deshalb sah der Körper so tadellos ordentlich aus, obgleich es kaum erklärte, weshalb sie hindurch schauen konnte.
»Ah, aber Sie haben die Gabe, mein Kind. Sie sind eine Hexe«, sagte Lemle.
»Ganz recht«, sagte Rembrandt. So ein reizender alter Mann. Er saß in der Ecke, den Kopf zur Seite gelegt, und sein rötliches Haar war im Alter spinnwebenfein.
»Lassen Sie das Petyr nicht hören«, sagte sie.
»Rowan, nimm den Smaragd ab«, sagte
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