Hexenstunde
ging über den dicken Teppich hinaus auf die Holzveranda.
Hatte es je einen Himmel gegeben, der weiter und klarer war? Voll von winzigen, funkelnden Sternen. Blütenweiß der Schaum auf den schwarzen Wellen. Weiß wie der Sand, der im Mondlicht leuchtete.
Aber weit unten am Strand stand eine einsame Gestalt; ein schlanker großer Mann, der zu ihr heraufschaute. Verdammt sollst du sein. Sie sah, wie die Gestalt sich langsam auflöste und verschwand.
Sie senkte den Kopf und zitterte jetzt, die Hände auf das hölzerne Geländer gelegt.
Du wirst kommen, wenn ich dich rufe.
Aber ich liebe dich, Rowan.
Entsetzt erkannte sie, daß die Stimme aus keiner bestimmten Richtung kam. Es war ein Flüstern in ihr und rings um sie herum, intim und nur für sie hörbar.
Ich warte nur auf dich, Rowan.
Dann laß mich in Ruhe. Sprich kein Wort mehr, und zeige dich nicht wieder, oder ich werde dich niemals rufen.
Wütend und erbittert wandte sie sich ab und kehrte zurück ins dunkle Schlafzimmer. Der warme Teppich war weich unter ihren Füßen. Sie stieg zu Michael in das niedrige Bett. Sie klammerte sich an ihn in der Dunkelheit, und ihre Finger schlössen sich fest um seinen Arm. Verzweifelt sehnte sie sich danach, ihn zu wecken und ihm zu erzählen, was geschehen war.
Aber das hier mußte sie allein tun. Sie wußte es. Sie hatte es immer gewußt.
Eine Woche lang war ihr jeden Morgen schlecht. Dann verging die Übelkeit, und die Tage waren prachtvoll, als sei der Morgen neu entdeckt und als sei ein klarer Kopf ein Geschenk der Götter.
Er sprach nicht wieder mit ihr. Er zeigte sich nicht mehr. Wenn sie an ihn dachte, stellte sie sich ihren Zorn vor wie eine sengende Hitze, die auf die mysteriösen und unklassifizierbaren Zellen seiner Gestalt einstrahlte und sie verdorren ließ wie zahllose winzige Schoten. Aber vor allem hatte sie Angst, wenn sie an ihn dachte.
Unterdessen ging das Leben weiter, denn sie bewahrte ihr Geheimnis für sich.
Warme Tage kamen selten und in großen Abständen, aber sie und Michael hatten den traumhaften Strand fast für sich allein. Und die reine Stille in dem einsamen Haus über den Dünen war magisch. Wenn die Luft warm war, saß sie stundenlang unter einem prächtigen weißen Sonnenschirm am Strand und las ihre medizinischen Zeitschriften und studierte diverse Unterlagen, die Ryan ihr per Boten schickte.
Sie las auch die Babybücher, die sie in den Buchläden am Ort auftreiben konnte – sentimental und wenig handfest, aber nichtsdestoweniger amüsant, vor allem die Bilder der Babys mit ihren winzigen, ausdrucksvollen Gesichtern, den dicken, runzligen Hälsen und den anbetungswürdigen kleinen Händchen und Füßchen. Sie konnte es kaum erwarten, es der Familie zu sagen. Mit Beatrice telephonierte sie fast jeden Tag. Aber es war am besten, das Geheimnis zu bewahren. Wie schmerzlich es für sie und Michael sein würde, wenn etwas schiefginge – und wenn die anderen Bescheid wüßten, wäre der Verlust nur noch schlimmer.
Wenn es zu kalt zum Schwimmen war, gingen sie stundenlang am Strand spazieren. Sie speisten in allen guten Restaurants der Gegend und fuhren mit dem Auto in die Kiefernwälder; sie erkundeten die großen Freizeitzentren mit ihren Tenniscourts und Golfplätzen. Aber meistens saßen sie glücklich im Hause, wo das endlose Meer so nah’ war.
Michael war ziemlich aufgeregt wegen seines Unternehmens – er hatte eine Handwerkertruppe, die in den Reihenhäuschen in der Annunciation Street arbeitete, und seine neue Firma hatte er in der Magazine Street eröffnet; all die kleinen Notfälle mußte er jetzt telephonisch regeln. Und natürlich wurde auch im Haus in der First Street immer noch gearbeitet: Juliens altes Zimmer im oberen Stockwerk war noch nicht fertig, und auch an der Rückseite des Daches waren Reparaturen notwendig.
Lange Flitterwochen paßten ihm jetzt nicht in den Kram, soviel war offenkundig – schon gar nicht solche, die Rowan immer wieder von neuem verlängerte.
Aber er war so liebenswürdig. Er tat nicht nur immer, was sie wollte, sondern er schien auch ein unerschöpfliches Talent dafür zu haben, stets das Beste aus dem Augenblick zu machen, ob sie nun Hand in Hand am Strand spazierten oder sich in einer kleinen Kneipe eine schnelle Mahlzeit aus Meeresfrüchten schmecken ließen, ob sie die Boote besichtigten, die im Yachthafen zum Verkauf angeboten wurden, oder ob sie jeder für sich in einer der zahlreichen Lieblingsecken des geräumigen Hauses
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