Hexenstunde
saßen und lasen.
Am Erntedankfest veranstalteten sie ihr privates, ruhiges Dinner draußen auf der Veranda über dem Strand. Am Abend brach ein eiskaltes, heulendes Unwetter über Destin herein. Der Sturm rüttelte an Glastüren und Fenstern. Überall an der Küste fiel der Strom aus. Es war eine absolut göttliche, natürliche Finsternis.
Stundenlang saßen sie vor dem Kamin, sprachen von Little Chris, und welches Zimmer das Kinderzimmer werden würde, und daß Rowan sich in den ersten zwei Jahren nicht durch Mayfair Medical stören lassen würde – sie würde jeden Vormittag mit dem Baby verbringen und erst gegen zwölf zur Arbeit gehen, und selbstverständlich würden sie soviel Personal einstellen, wie nötig war, damit alles seinen reibungslosen Gang gehen konnte.
Gottlob fragte er nicht geradeheraus, ob sie »dieses verdammte Ding« noch einmal gesehen hatte. Sie wußte nicht, was sie tun würde, wenn er sie zwänge, mit Bedacht zu lügen. Aber das Geheimnis blieb verschlossen in einer kleinen Kammer in ihrem Herzen: Blaubarts geheime Kammer, deren Schlüssel im Brunnen lag.
Es wurde kälter. Bald gäbe es keinen Vorwand mehr, noch hier zu bleiben. Sie wußte, daß sie nach Hause fahren sollten.
Wie kam sie eigentlich dazu, Michael nichts zu erzählen und Aaron nichts zu erzählen? Einfach so wegzulaufen, sich zu verstecken?
Aber je länger sie hier blieb, desto besser verstand sie ihren Konflikt und ihre Gründe.
Sie wollte mit dem Wesen sprechen. Die Erinnerung daran, wie er in der Küche vor ihr gestanden hatte, erfüllte sie mit einem machtvollen Gefühl, um so mehr, weil sie den zärtlichen Klang seiner Stimme gehörte hatte. Ja, sie wollte ihn kennenlernen! Es war genau so, wie Michael es in jener furchtbaren ersten Nacht vorhergesagt hatte, als die alte Frau gestorben war. Was war Lasher? Woher kam er? Welche Geheimnisse verbargen sich hinter diesem makellosen, tragischen Gesicht? Was würde Lasher über die Tür und die dreizehn Hexen sagen?
Und sie brauchte nichts weiter zu tun, als ihn zu rufen. Das Geheimnis bewahren und seinen Namen sagen.
Oh, aber du bist eine Hexe, sagte sie bei sich, und ihre Schuldgefühle vertieften sich. Und sie wissen es alle. Sie wußten es an dem Nachmittag, als sie mit Gifford gesprochen hatte; sie merkten es an der blanken, metallenen Macht, die du verströmst, die sie alle für Kälte und Gerissenheit halten und die nie etwas anderes war als unwillkommene Kraft. Der Alte, Fielding – er hatte recht mit seinen Warnungen. Und Aaron weiß es, nicht wahr? Natürlich weiß Aaron es.
Alle wissen es, außer Michael, und Michael ist so leicht zu täuschen.
Aber wenn sie nun beschloß, niemanden zu täuschen und einfach nicht mitzuspielen? Vielleicht fehlte ihr nur der Mut zu diesem Entschluß. Vielleicht widerstrebte er ihr auch. Vielleicht wollte sie dieses dämonische Wesen nur warten lassen, wie es sie hatte warten lassen.
Wie dem auch sein mochte, sie empfand nicht mehr jene Abneigung gegen ihn, jenen schrecklichen Abscheu, der auf das Erlebnis im Flugzeug gefolgt war. Den Zorn empfand sie noch, aber die Neugier und die stetig wachsende Anziehungskraft waren stärker…
Es war der erste wirklich kalte Tag. Michael kam heraus an den Strand, ließ sich neben ihr nieder und sagte, daß er jetzt zurück fahren müsse. Eigentlich genoß sie die scharfe Luft und das Sonnenbaden in dickem Baumwollpullover und langer Hose, wie sie es vielleicht auch in Kalifornien auf ihrer windigen Veranda getan hätte.
»Weiß du, es liegt folgendes an«, erklärte er. »Tante Viv will ihre Sachen aus San Francisco hergeholt haben, und du weißt, wie alte Leute sein können. Und es gibt niemanden außer mir, der den Haushalt in der Liberty Street auflösen könnte. Ich habe auch ein paar Dinge über meinen alten Laden dort zu entscheiden. Mein Buchhalter hat vorhin wieder angerufen, weil jemand ihn mieten will; ich muß mal hin und eine Inventur machen.«
Und er erzählte weiter – von zwei Grundstücken in Kalifornien, die verkauft werden müßten, vom Hertransport bestimmter Sachen, von der Vermietung seines Hauses und ähnlichen Dingen. Und die Wahrheit sei, daß er in New Orleans gebraucht werde. Seine neue Firma in der Magazine Street brauche ihn. Wenn es damit klappen sollte…
»Die Wahrheit ist, ich würde lieber heute als morgen rüberfliegen. Wir haben bald Dezember, Rowan. Weihnachten steht vor der Tür. Ist dir das klar?«
»Natürlich, ich verstehe das alles.
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