Hexenstunde
Wir fahren heute abend zurück.«
»Aber du brauchst doch nicht. Du kannst hier in Florida bleiben, bis ich zurück komme, oder solange du willst.«
»Nein, ich komme mit dir«, beharrte sie. »Ich gehe gleich hinauf und packe. Außerdem wird es Zeit, hier abzureisen. Jetzt ist es warm, aber heute morgen, als ich herauskam, war es wirklich kalt.«
Er nickte. »Fandest du das nicht greulich?«
Sie lachte. »Es war immer noch nicht so kalt wie ein Sommertag in Kalifornien.«
Sie lehnte sich in ihrem hölzernen Liegestuhl zurück, als er wegging, und ließ den Kopf zur Seite fallen. Der Golf lag wie stumpf glänzendes Silber vor ihr, wie so oft, wenn die Sonne am höchsten stand. Sie ließ die linke Hand in den weichen, zuckerfeinen Sand fallen; sie bohrte die Finger hinein, nahm eine Handvoll und ließ sie durch die Finger rieseln. »Real«, wisperte sie. »So real.«
Es fügte sich nur zu gut, daß er jetzt fort mußte und sie in der First Street allein sein würde, oder? War es nicht grade so, als habe jemand das alles so arrangiert? Und die ganze Zeit über hatte sie geglaubt, sie sei diejenige, die das Spiel bestimmte.
»Übernimm dich nicht, mein Freund«, flüsterte sie in den kühlen Wind, der vom Golf hereinwehte. »Rühre meinen Geliebten nicht an, oder ich werde dir nie vergeben. Sorg ja dafür, daß er zu mir zurück kommt, gesund und wohlbehalten.«
42
Zwölf Uhr. Warum schien das die rechte Zeit zu sein? Vielleicht, weil Pierce und Clancy so lange geblieben waren und sie diese ruhige Stunde gebraucht hatte? In Kalifornien war es erst zehn, aber Michael hatte schon angerufen; er war erschöpft von dem langen Flug und würde wahrscheinlich inzwischen fest schlafen.
Er hatte so aufgeregt geklungen, weil alles so unwirtlich aussehe und er es kaum erwarten könne, nach Hause zu kommen. Es tat weh, ihn schon jetzt so heftig zu vermissen und allein in diesem großen, leeren Bett zu liegen. Aber der andere wartete.
Als der sanfte Glockenton der Uhr verklungen war, stand sie auf, zog das seidene Neglige über das Nachthemd, schlüpfte in die Satinpantoffeln und ging hinaus, die lange Treppe hinunter.
Und wo treffen wir uns, mein dämonischer Geliebter?
Im Salon zwischen den riesigen Spiegeln, bei geschlossenen Vorhängen, damit das Licht von der Straße nicht hereinfällt? Vermutlich ein besserer Ort als die meisten.
Langsam schritt sie auf dem blanken Kiefernholzboden dahin, und ihre Füße versanken in dem chinesischen Teppich, als sie sich dem vorderen Kamin näherte. Michaels Zigaretten auf dem Tisch. Ein halbleeres Glas Bier. Asche von dem Feuer, das sie am Abend im Kamin gemacht hatte, an diesem ersten bitterkalten Abend im Süden.
Ja, der erste Dezember. Das Baby hatte schon kleine Augenlider, und seine Ohren fingen an, sich heraus zu bilden.
Es sei alles in Ordnung, hatte der Arzt gesagt. Starke, gesunde Eltern, und sie in exzellenter körperlicher Verfassung. Essen Sie vernünftig, und übrigens – was machen Sie eigentlich so?
Lügen.
Heute hatte sie gehört, wie Michael mit Aaron telephoniert hatte. »Prima. Nein, ich meine, überraschend gut, schätze ich. Völlig friedlich. Abgesehen natürlich von dieser schrecklichen Vision Stellas während der Hochzeitsfeier. Aber das kann ich mir auch eingebildet haben. Ich war betrunken von all dem Champagner.« Pause. »Nein. Überhaupt nichts.«
Aaron konnte die Lüge durchschauen, nicht wahr? Aaron wußte Bescheid. Aber das Problem bei diesen dunklen, übermenschlichen Fähigkeiten war, daß man nie wußte, wann sie tätig wurden. Sie ließen einen im Stich, wenn man am meisten auf sie zählte. Nach all den planlos aufblitzenden und entschieden unwillkommenen Einblicken in die Gedanken anderer war die Welt plötzlich erfüllt von versteinerten Mienen und ausdrucks losen Stimmen. Und man war allein.
Vielleicht war Aaron allein. In Juliens alten Aufzeichnungen in der Bibliothek war ebenfalls nichts, abgesehen von den zu erwartenden Zahlen, die den wirtschaftlichen Status quo der Plantage belegten. Auch in den Zauberbüchern und Dämonologien, die im Laufe der Jahre hier gesammelt worden waren, hatte er nichts gefunden – nur die allseits bekannten Informationen über das Hexenwesen, die für jedermann zugänglich waren.
Und das Haus war jetzt fertig und wunderschön. Es gab keine dunklen, unerforschten Ecken mehr. Alles in Ordnung. Aus Juliens Zimmer war ein hübsches Arbeitszimmer für Michael geworden, mit einem Zeichentisch
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