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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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hatte. Sie hatte den Hausschlüssel in der Hand, aber keine Handtasche. Nur ihr Gespräch war Wirklichkeit, und sie war sich ihrer eigenen Erschöpfung bewußt, und auch der feinen Schweißschicht auf ihren Händen und auf ihrem Gesicht.
    »Er wird Sie töten«, sagte sie, ohne ihn anzusehen. »Ich weiß es. Er will es. Ich kann ihn eine Weile aufhalten, aber was kann ich ihm schon anbieten? Er weiß, daß ich hier bin.« Sie lachte kurz auf, und ihr Blick wanderte an der Decke entlang. »Er ist bei uns. Er kennt jeden Trick. Er ist überall. Wie Gott. Bloß ist er nicht Gott!«
    »Nein. Er weiß nicht alles. Lassen Sie sich von ihm nicht zum Narren halten. Schauen Sie sich die Geschichte an. Er hat zu viele Fehler gemacht. Und Sie haben Ihre Liebe, die Sie ihm im Gegenzug anbieten können. Bieten Sie ihm Ihren Willen. Außerdem – warum sollte er mich töten? Was kann ich ihm schon antun? Sie überreden, ihm nicht zu helfen? Ihr moralisches Empfinden ist stärker und feiner selbst als meines.«
    »Wie um alles in der Welt kommen Sie auf diese Idee?« fragte sie. »Was für ein moralisches Empfinden?« Sie hatte plötzlich das Gefühl, sie werde gleich zusammenbrechen – sie müsse weg hier, nach Hause, schlafen. Aber dort war er und wartete auf sie. Er würde überall sein, wohin sie auch ginge. Und sie war aus einem bestimmten Grund hergekommen. Um Aaron zu warnen. Um Aaron eine letzte Chance zu geben.
    Aber es wäre so schön, nach Hause zu gehen, wieder zu schlafen, wenn sie nur das Baby nicht wieder weinen hörte. Sie fühlte schon, wie Lasher sie mit seinen unzähligen Armen umhüllte, sie in luftiger Wärme einlullte.
    »Rowan, hören Sie doch.«
    Sie erwachte wie aus einem Traum.
    »Überall in der Welt gibt es Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten«, sagte Aaron, »aber Sie sind ein ganz seltener Fall, weil Sie einen Weg gefunden haben, Ihre Fähigkeit zum Guten zu nutzen. Sie starren nicht für Dollars in eine Kristallkugel hinein, Rowan. Sie heilen. Können Sie ihn dabei einbeziehen? Oder wird er Sie für allezeit davon abhalten? Wird er Ihre Kraft in die Erschaffung irgendeines Mutantenmonstrums lenken, das die Welt nicht will und nicht hinnehmen kann? Vernichten Sie ihn, Rowan. Um Ihrer selbst willen. Nicht für mich. Sie wissen, was recht ist: Vernichten Sie ihn deshalb.«
    »Eben deshalb wird er Sie töten, Aaron. Ich kann ihn nicht aufhalten, wenn Sie ihn provozieren. Aber warum ist es so unrecht? Warum sind Sie dagegen? Warum haben Sie mich belogen?«
    »Ich habe Sie nicht belogen. Und Sie wissen, warum es nicht geschehen darf. Er wäre ein Ding ohne menschliche Seele.«
    »Das ist Religion, Aaron.«
    »Rowan, er wäre unnatürlich. Wir brauchen keine Monster mehr. Wir sind selbst monströs genug.«
    »Er ist so natürlich wie wir«, erwiderte sie. »Das versuche ich doch gerade, Ihnen zu erklären.«
    »Er ist so weit von uns entfernt wie ein riesenhaftes Insekt, Rowan. Würden Sie ein solches Ding erschaffen? So etwas ist nicht vorgesehen.«
    »Das sagen Sie – aber wenn es keinen Plan, keine Vorsehung gibt? Wenn es nur einen Prozeß gibt, nur Zellen, die sich vermehren, und wenn seine Metamorphose ebenso natürlich ist wie ein Fluß, der seinen Lauf ändert und dabei Ackerland und Häuser und Vieh und Menschen verschlingt? So natürlich wie ein Komet, der in die Erde kracht?«
    »Würden Sie nicht versuchen, die Menschen vor dem Ertrinken zu retten? Würden Sie nicht versuchen, sie vor dem Feuer des Kometen zu retten? Also schön. Sagen wir, er ist natürlich. Lassen Sie uns annehmen, daß wir mehr als nur natürlich sind. Wir wollen mehr als einen bloßen Zellprozeß. Unsere Moral, unser Mitgefühl, unsere Fähigkeit zu lieben und eine geordnete Gesellschaft zu schaffen – das alles macht uns besser als die Natur. Aber davor hat er keine Ehrfurcht, Rowan. Sehen Sie sich doch an, was er aus der Familie Mayfair gemacht hat.«
    »Eine hübsche Moralpredigt«, sagte sie. »Sie enttäuschen mich. Ich hatte gehofft, Sie würden mir im Gegenzug für meine Warnung Argumente geben. Ich hatte gehofft, Sie würden meine Seele stärken.«
    »Sie brauchen meine Argumente nicht. Schauen Sie in Ihre eigene Seele. Sie wissen, was ich Ihnen zu sagen versuche. Er ist ein Laserstrahl mit Ehrgeiz. Er ist eine Bombe, die denken kann. Lassen Sie ihn herein, und die Welt wird dafür bezahlen. Sie werden die Mutter einer Katastrophe sein.«
    Wie schmächtig er aussah. Zum erstenmal sah sie sein Alter in den

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