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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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hat gedroht, zu gehen, wenn ich mit Ihnen oder mit Michael spreche. Aber er wird nicht gehen. Er braucht mich. Er braucht es, daß ich ihn sehe und in seiner Nähe bin. Er ist clever, aber so clever ist er nicht. Er braucht mich, damit ich ihm ein Ziel gebe und ihn dem Leben näher bringe.«
    Sie starrte die lange Theke an, den einsamen kleinen, kahlköpfigen Mann hinten am Ende, ein fleischiges Geschöpf mit einem Schlitz anstelle eines Mundes, den bleichen, anämischen Barkeeper, der irgend etwas polierte, wie Barkeeper es immer tun. Reihenweise Flaschen voller Gift. Ruhig hier drin. Gedämpftes Licht.
    Sie setzte sich, drehte sich um und sah Aaron an.
    »Warum haben Sie mich belogen?« fragte sie. »Warum haben Sie mir nicht gesagt, daß Sie hergeschickt wurden, um ihn aufzuhalten.«
    »Ich bin nicht hergeschickt worden, um ihn aufzuhalten. Ich habe nicht gelogen.«
    »Sie wissen, daß er zu uns durch kommen kann. Sie wissen, daß das sein Ziel ist, und Sie sind entschlossen, ihn aufzuhalten. Das waren Sie immer.«
    »Ich weiß, was in der Geschichte zu lesen steht, ebenso wie Sie. Ich habe Ihnen alles gegeben.«
    »Ah, aber Sie wissen, daß es schon öfter vorgekommen ist. Sie wissen, daß es auf der Welt Wesen wie ihn gibt, die eine Tür gefunden haben.«
    Keine Antwort.
    »Helfen Sie ihm nicht«, sagte Aaron schließlich.
    »Aber warum haben Sie es mir nicht gesagt?«
    »Hätten Sie mir geglaubt? Ich bin nicht gekommen, um Ihnen Sagen zu erzählen. Ich bin nicht gekommen, um Sie in die Talamasca einzuführen. Ich habe Ihnen die Informationen über Ihr Leben und über Ihre Familie gegeben, die ich hatte. Alles, was für Sie Wirklichkeit war.«
    Sie antwortete nicht. Was er sagte, war eine Form der Wahrheit, wie er sie kannte, aber er verbarg auch etwas. Jeder verbarg etwas.
    »Dieses Ding ist eine gigantische Kolonie von mikroskopischen Zellen. Sie nähren sich von der Luft, wie ein Schwamm sich vom Meer ernährt, verzehren so winzige Partikel, daß der Prozeß kontinuierlich ist, völlig unbemerkt von dem Organismus oder irgend etwas in seiner Umgebung. Aber alle Grundbestandteile des Lebens sind vorhanden – eine Zellstruktur ganz sicher, Aminosäuren, DNS und eine ordnende Kraft, die das Ganze ungeachtet seiner Größe bindet und die jetzt einwandfrei auf das Bewußtsein des Wesens reagiert, die all dem eine beliebige Form geben kann.«
    Sie schwieg und suchte seinem Gesichtsausdruck zu entnehmen, ob er sie verstand oder nicht. Aber kam es darauf noch an? Sie verstand es jetzt, und das war der entscheidende Punkt.
    »Es ist nicht unsichtbar: man kann es nur unmöglich sehen, weil seine Zellen so klein sind. Aber es sind Zellen. Die gleichen Zellen, aus denen auch Ihr Körper besteht, und auch meiner. Wie hat es Intelligenz erworben? Wie denkt es? Diese Fragen kann ich ebenso gut beantworten wie die, woher die Zellen eines Embryos wissen, wie sie Augen und Finger bilden sollen oder warum ein Schwamm, den man zu Pulver zermahlt, sich innerhalb weniger Tage wieder vollständig zu seiner alten Form zurückbildet.
    Wenn wir das aber wissen, dann werden wir auch wissen, weshalb Lasher einen Intellekt hat, denn er besitzt eine ganz ähnliche ordnende Kraft, nur ohne erkennbares Gehirn. Vorläufig genügt es, zu sagen, daß er aus dem Präkambrium stammt und autark ist; seine Lebensspanne könnte leicht Jahrmilliarden betragen. Es ist vorstellbar, daß er das Bewußtsein von Menschen absorbiert hat, daß er sich von dieser Energie ernährt hat und daß sein Verstand durch eine Mutation zustande gekommen ist. Ebenso gut ist vorstellbar, daß er in der Lage ist, komplexere Molekularstrukturen an sich zu ziehen, wenn er sich materialisiert. Strukturen, die er dann irgend wie auflöst, ehe seine eigenen Zellen sich hoffnungslos mit diesen schwereren Partikeln verbinden. Diese Auflösung geschieht in einem Zustand, der an Panik grenzt. Denn was er fürchtet, ist eine unvollkommene Verbindung, aus der er nicht mehr befreit werden kann.
    Aber seine Sehnsucht nach einem Körper ist so stark, daß er inzwischen bereit ist, alles zu riskieren, um warmblütig und anthropomorph zu werden.«
    »Halten Sie ihn auf«, sagte Aaron. »Sie wissen jetzt, was er ist. Halten Sie ihn auf. Lassen Sie nicht zu, daß er menschliche Gestalt annimmt.«
    Sie sagte nichts, Sie schaute auf den roten Wollstoff ihrer Jacke, und die Farbe erschreckte sie plötzlich. Sie konnte sich gar nicht erinnern, daß sie die Jacke aus dem Schrank genommen

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