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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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klapperten laut auf dem Fußboden. Sie nahm ihren Regenmantel aus dem Schrank vorn in der Diele – mehr Schutz vor der Kälte brauchte sie nicht – und ging zur Haustür hinaus.
    Eine Stunde lang spazierte sie durch die stillen, leeren Straßen. Sie versuchte, einfach Dinge zu sehen – Moos, das an einer Mauer wuchs, die Farbe des Jasmins, der immer noch einen Zaun umrankte. Sie versuchte, nicht zu denken oder in Panik zu verfallen. Sie versuchte, nicht wieder nach Hause gehen zu wollen. Aber schließlich führten ihre Schritte sie doch dorthin zurück, und sie stand vor ihrem eigenen Gartentor.
    Ihre Hand zitterte, als sie den Schlüssel ins Schloß schob. Er stand am anderen Ende der Diele, in der Tür zum Eßzimmer, und schaute sie an.
    »Nein! Nicht bevor ich es sage!« fauchte sie, und die Kraft ihres Hasses ging ihr voraus wie ein Lichtstrahl. Das Bild verschwand, und plötzlich stieg ihr ein beißender Geruch in die Nase. Sie legte die Hand vor den Mund. Überall in der Luft sah sie die leise, wellenförmige Bewegung. Dann nichts mehr – das Haus war still.
    Das Geräusch war wieder zu hören: ein Baby, das weinte.
    »Du tust das«, flüsterte sie. Aber das Geräusch war verstummt. Sie ging die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Das Bett war gemacht, ihr Nachtzeug fortgeräumt. Die Vorhänge zugezogen.
    Sie schloß die Tür ab. Sie streifte die Schuhe ab und legte sich unter dem weißen Baldachin auf die Bettdecke, und sie schloß die Augen. Sie konnte nicht länger dagegen ankämpfen. Die Erinnerung an die Lust der vergangenen Nacht erweckte eine sengende Hitze in ihr, einen dumpfen Schmerz, und sie preßte das Gesicht ins Kopfkissen und versuchte sich zu erinnern und sich nicht zu erinnern, und ihre Muskeln spannten und lockerten sich.
    »Also komm«, flüsterte sie. Sofort umschloß sie diese sanfte, unheimliche Substanz, die sich jetzt sammelte und dichter wurde, wie Dampf sich sammelt, wenn er zu Wasser wird, und wie Wasser sich sammelt, wenn es zu Eis gefriert.
    »Soll ich eine Gestalt für dich annehmen? Soll ich Illusionen schaffen?«
    »Nein, noch nicht«, wisperte sie. »Sei, wie du bist und wie du schon einmal warst, mit all deiner Macht.«
    Schon fühlte sie das Streicheln an den Innenseiten ihrer Füße und in den Kniekehlen. Zarte Finger schoben sich in die empfindsamen Zwischenräume zwischen ihre Zehen. Dann schnappte das Nylongewebe ihrer Strumpfhose, zerriß, wurde herunter gezogen, und die Haut ihrer nackten Beine atmete und kribbelte überall.
    Sie fühlte, wie ihr Kleid sich öffnete, fühlte, wie die Knöpfe durch die Knopflöcher glitten.
    »Ja, mach es wieder mit Gewalt«, sagte sie. »Mach es rauh und hart und langsam.«
    Jäh fühlte sie sich auf den Rücken geschleudert, ihr Kopf wurde seitlich ins Kissen gedrückt. Ihr Kleid zerriß, und unsichtbare Hände strichen über ihren Bauch. Etwas wie Zähne schrammte über ihr nacktes Geschlecht, Fingernägel kratzten über ihre Waden.
    »Ja«, schrie sie mit zusammengebissenen Zähne. »Mach es grausam.«

 
    43
     
     
    Wie viele Tage und Nächte waren vergangen? Sie wußte es wirklich nicht. Ungeöffnete Post türmte sich auf dem Tisch in der Diele. Das Telephon klingelte hin und wieder – zwecklos.
    »Ja, aber wer bist du? Wer steckt hinter all dem. Wer ist da?«
    »Ich habe dir gesagt, solche Fragen bedeuten nichts für mich. Ich kann sein, was du willst.«
    »Reicht nicht.«
    »Was war ich? Ein Phantom. Endlos zufrieden. Ich weiß nicht, woher die Fähigkeit kam, Suzanne zu lieben. Sie hat mich gelehrt, was Tod ist, als sie verbrannt wurde. Sie schluchzte, als man sie auf den Scheiterhaufen zerrte; sie konnte nicht verstehen, daß sie ihr das antaten. Sie war ein Kind, meine Suzanne – eine Frau, die nichts wußte vom menschlichen Bösen. Und meine Deborah wurde gezwungen, zuzuschauen. Und hätte ich den Sturm gemacht, wären sie beide verbrannt worden.
    Wer bin ich? Ich bin der, der um Suzanne weinte, als niemand weinte. Ich bin der, der Qualen ohne Ende fühlte, als sogar Deborah dastand wie betäubt und den Leib ihrer Mutter anstarrte, wie er sich in den Flammen wand.
    Ich bin der, der sah, wie Suzannes Geist den schmerzgemarterten Körper verließ. Ich sah ihn emporsteigen, frei und ohne Sorge. Habe ich eine Seele, daß ich solche Freude empfinden konnte – weil Suzanne nun nicht mehr leiden würde? Ich strebte ihrem Geist entgegen, der noch geformt war in der Gestalt ihres Körpers, denn sie wußte noch nicht, daß solche Form

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