Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
Unterton in ihrer Stimme, etwas, das er früher nicht gehört hatte?
    »Michael, verbrenne einfach alles, was noch übrig ist. Mach ein großes Feuer im Garten, um Himmels willen. Aber beeil dich.«
    Er versprach ihr, daß er noch am selben Abend mit dem Zusammen packen fertig sein würde, und wenn es ihn umbrächte.
    »Es ist doch nichts passiert, oder? Ich meine, du hast doch keine Angst – oder, Rowan?«
    »Nein, ich habe keine Angst. Es ist noch dasselbe wunderschöne Haus, das du verlassen hast. Ryan hat einen Weihnachtsbaum liefern lassen. Du solltest ihn sehen – er reicht bis unter die Decke. Jetzt steht er im Salon und wartet darauf, daß wir beide ihn schmücken. Im ganzen Haus riecht es nach Tannennadeln.«
    »Ah, das ist wundervoll. Und ich habe eine Überraschung für dich – für den Baum.«
    »Ich will nur dich, Michael. Komm nach Hause.«
    Vier Uhr nachmittags. Jetzt war das Haus wirklich leer und trist und voller Echos. Er stand in seinem alten Schlafzimmer und schaute hinaus über die naßglänzenden Dächer, die den Hang hinunter zum Castro-Viertel und weiter bis zu den dichtgedrängten stahlgrauen Wolkenkratzern der City reichten.
    Nach Hause.
    Aber jetzt hatte er sie schon wieder vergessen. Die Kisten auf dem Speicher, die Überraschung, das, was er vor allem hatte holen wollen.
    Er nahm Packpapier und einen leeren Karton und stieg die Leiter hinauf; gebückt stand er unter dem schrägen Dach und knipste das Licht an. Die undichte Stelle war repariert, und jetzt war alles sauber und trocken. Der Himmel hing schiefergrau vor dem vorderen Fenster. Und auf den vier letzten Kisten stand mit roter Tinte »Weihnachten«.
    Die Lichter würde er für die Leute hier lassen, die das Haus mieten wollten. Sie würden sie bestimmt gebrauchen können.
    Aber den Baumschmuck würde er mitnehmen. Die Vorstellung, auch nur ein einziges Stück zu verlieren, war unerträglich. Und wenn er daran dachte, daß der Baum schon da war…
    Er zog eine Kiste unter die nackte Deckenbirne, öffnete sie und warf das alte Seidenpapier zur Seite. Im Laufe der Jahre hatte er Hunderte dieser kleinen Porzellanschönheiten aus den Spezialgeschäften überall in der Stadt zusammen getragen. Hin und wieder hatte er in seinem eigenen Laden so etwas verkauft. Engel, Weise aus dem Morgenland, winzige Häuschen, Karussellpferdchen und anderen zarten Firlefanz aus feinbemaltem Porzellan. Echter viktorianischer Baumschmuck hätte nicht feiner oder zierlicher aussehen können. Da waren winzige Vögel aus echten Federn, Holzkugeln, geschickt bemalt mit üppigen alten Rosen, Zuckerstangen aus Porzellan und versilberte Sterne.
    Langsam machte er sich an die Arbeit; er nahm jedes einzelne Stück aus dem Seidenpapier, wickelte es in Packpapier und steckte es in eine kleine Plastiktüte. Stell dir vor – das Haus in der First Street am Heiligen Abend, mit einem Christbaum im Salon. Stell es dir vor im nächsten Jahr, wenn das Baby da ist.
    Plötzlich kam es ihm unmöglich vor, daß sein Leben eine so große und wunderbare Veränderung erfahren sollte. Eigentlich hatte er dort draußen im Meer sterben sollen, dachte er.
    Und vor seinem geistigen Auge sah er plötzlich nicht das Meer, sondern die Kirche an Weihnachten, als er ein kleiner Junge war. Er sah die Krippe hinter dem Altar, und Lasher stand daneben, Lasher sah ihn an, und Lasher war nur der Mann aus der First Street, groß und dunkelhaarig und aristokratisch blaß.
    Es überlief ihn eisig. Was mache ich hier. Sie ist allein dort. Ausgeschlossen, daß er sich ihr noch nicht gezeigt haben soll.
    Das Gefühl war so dunkel, so voller Überzeugungskraft, daß es ihn vergiftete. Er beeilte sich mit dem Packen. Als er endlich fertig war, räumte er auf, nahm den Karton mit dem Baumschmuck mit und verschloß seinen Speicher zum letztenmal.
    Der Regen hatte nachgelassen, als er am Postamt in der Eighteenth Street ankam. Plötzlich ging ihm alles zu langsam. Er fauchte den routinemäßig gleichmütigen Schalterangestellten an, und dann hastete er durch den eisigen Wind zu seinem Geschäft oben an der Castro Street.
    Sie würde ihn nicht belügen. Das würde sie nicht tun. Das Ding spielte seine alten Spielchen. Aber wieso diese Erscheinung an jenem längst vergangenen Weihnachtsfest? Wieso das Gesicht, das ihn da über die Krippe hinweg angestrahlt hatte? Verflucht, vielleicht hatte es nichts zu bedeuten.
    Schließlich hatte er den Mann auch an jenem unvergeßlichen Abend gesehen, als er Isaac

Weitere Kostenlose Bücher