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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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verharren, dich beobachten, die Worte auffangen, die von deinen Lippen fallen wie Wassertropfen, die meinen Durst stillen können. Ich will dich jetzt umschlingen. Schenke mir diese Stunden, Rowan…«
    Sie merkte, daß sie hochgehoben wurde. Ihre Füße berührten den Boden nicht mehr. Die Dunkelheit wirbelte um sie herum, starke Hände drehten und wendeten sie und streichelten sie überall. Schwerkraft gab es nicht mehr; sie fühlte, wie seine Stärke wuchs und wie die Hitze zunahm.
    Kalter Wind rüttelte an den Fensterscheiben, Gewisper erfüllte das große, leere Haus. Sie schwebte in der Luft. Sie drehte sich, tastete durch das schattenhafte Gewirr der Arme, die sie trugen, fühlte, wie ihre Beine auseinandergedrückt, ihr Mund geöffnet wurde. Ja, tu es.
    »Wie kann der Augenblick bevorstehen?« flüsterte sie.
    »Bald, Geliebte.«
    »Ich kann es nicht.«
    »O doch, du wirst es können, meine Schöne. Du weißt es. Du wirst sehen…«

 
    48
     
     
    Es wurde dunkel, und der Wind war bitterkalt, als er aus dem Wagen stieg, aber die alte Pflanzervilla sah freundlich und einladend aus; warmes gelbes Licht erfüllte alle ihre Fenster.
    Aaron erwartete ihn in der Tür; er trug Schichten von Wollzeug unter einer grauen Strickjacke und einen Kaschmirschal um den Hals.
    »Hier, das ist für Sie«, sagte Michael. »Frohe Weihnachten, mein Freund.« Er legte Aaron eine in grünes Weihnachtspapier gewickelte kleine Flasche in die Hände. »Keine sehr große Überraschung, fürchte ich. Aber es ist der beste Brandy, den ich auftreiben konnte.«
    »Das ist sehr aufmerksam von Ihnen«, sagte Aaron mit leisem Lächeln. »Er wird mir ausgezeichnet schmecken. Jeder Tropfen. Jetzt kommen Sie aus der Kälte. Ich habe auch eine Kleinigkeit für Sie. Ich zeig’s Ihnen später. Kommen Sie herein.«
    Die warme Luft war wundervoll. Im Wohnzimmer stand ein ziemlich großer, dichter Baum, prachtvoll geschmückt mit goldenem und silbernem Zierrat, was Michael mit Überraschung zur Kenntnis nahm. Sogar die Kaminsimse waren mit Stechpalmengrün geschmückt, und im größten Kamin brannte ein munteres Feuer.
    »Es ist ein altes, altes Fest, Michael«, sagte Aaron, seine Frage lächelnd vorwegnehmend. »Es reicht weit in die Zeit vor Christus zurück. Die Wintersonnenwende – die Zeit, da die Kräfte der Erde am stärksten sind. Wahrscheinlich erwählte sich der Sohn Gottes deshalb diese Jahreszeit für seine Geburt.«
    »Ja, also… ein bißchen Glauben an den Sohn Gottes könnte ich im Moment gut vertragen«, sagte Michael. »Ein bißchen Glauben an die Kräfte der Erde.«
    Er zog seine Lederjacke und die Handschuhe aus, überließ sie dankbar Aaron und streckte die Hände wärmesuchend dem Feuer entgegen. Der Wind trommelte gegen die Scheiben der Glastüren; sie waren frostumrandet und vom Blaßgrün der Landschaft draußen erfüllt.
    Kaum hatte er sich gesetzt, spürte er, daß der Knoten in seinem Innern sich löste. Ihm war, als werde er gleich losheulen. Er holte tief Luft. Sein Blick schweifte ziellos umher, und dann begann er ohne lange Vorreden.
    »Es ist passiert«, erklärte er mit zittriger Stimme. Er konnte kaum fassen, daß es so weit gekommen sein sollte: daß er so über sie redete. Aber er sprach weiter. »Sie belügt mich. Er ist bei ihr, und sie lügt. Sie hat mich Tag und Nacht belogen, seit ich wieder zu Hause bin.«
    »Erzählen Sie mir, was passiert ist«, sagte Aaron; seine Miene war nüchtern und voller Mitgefühl.
    »Sie hat nicht mal gefragt, weshalb ich so schnell aus San Francisco zurück gekommen bin. Sie hat’s überhaupt nicht erwähnt. Es war, als ob sie es wüßte. Und ich war wie von Sinnen gewesen, als ich sie vom Hotel aus angerufen habe. Verflucht, ich habe Ihnen am Telephon erzählt, was passiert ist. Ich dachte, das Ding versucht mich umzubringen. Und sie hat mich nie gefragt, was eigentlich passiert ist.«
    Aaron sagte nichts. Er hatte den Ellbogen auf die Armlehne seines Sessels gestützt; sein Kinn ruhte auf dem Handballen, und die Finger waren unter der Unterlippe gekrümmt. Er sah vorsichtig, wachsam und nachdenklich aus.
    »Weiter«, sagte er.
    »Der entscheidende Punkt ist, daß die kurze Vision Juliens genügt hat, alles zurück zu bringen. Nicht, daß ich mich an jedes gesprochene Wort erinnert hätte. Aber das Gefühl war wieder da. Sie wollen, daß ich eingreife. Sie sagten etwas von den ›uralten menschlichen Werkzeugen, die mir zu Gebote stehen«. Ich erinnere mich an diese Worte

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