Hexenstunde
Kopf über diese anscheinend körperlosen Wesen. Es gibt keine Kultur auf der ganzen Erde, die ihre Existenz nicht anerkennt. Aber niemand weiß, was sie eigentlich sind. Die katholische Kirche sieht in ihnen Dämonen. Sie hat ausführliche theologische Erklärungen für ihre Existenz, und sie erscheinen ihr ausnahmslos als böse und zerstörungswütig. Nun ließe sich das alles leicht beiseite wischen, wäre die katholische Kirche nicht sehr klug, was das Verhalten und die Schwächen dieser Wesen angeht. Aber ich schweife ab.
Der springende Punkt ist: Wir in der Talamasca haben immer angenommen, daß diese Wesen den Geistern der irdischen Toten sehr ähnlich seien. Wir haben geglaubt oder einfach voraus gesetzt, daß beide in ihrem Wesen körperlos und intelligent und daß sie in einem Bereich in der Umgebung der Lebenden befangen seien.«
»Und Lasher könnte ein solcher Geist sein?«
»Ja. Aber was bedeutsamer ist: Rowan ist offenbar ein Durchbruch gelungen, und sie hat entdeckt, was diese Wesen eigentlich sind. Sie behauptet, Lasher besitze eine Zellstruktur, und die Basiskomponenten alles organischen Lebens seien in ihm enthalten.«
»Das hieße, er ist nur eine bizarre Art von Lebewesen.«
»Ich weiß es nicht. Aber mir ist der Gedanke gekommen, daß die sogenannten Geister der Verstorbenen vielleicht aus den gleichen Komponenten bestehen. Vielleicht nimmt der intelligente Teil unserer selbst, wenn er den Körper verläßt, etwas Lebendes mit. Vielleicht machen wir statt des physikalischen Todes eine Metamorphose durch. All die uralten Wörter – ätherischer Körper, Astralleib, Geist – sind vielleicht nur Bezeichnungen für die feine Zellstruktur, die bestehen bleibt, wenn das Fleisch vergeht.«
»Das ist mir zu hoch, Aaron.«
»Ja, ich rede ziemlich theoretisch daher, nicht wahr? Ich glaube, worauf ich hinaus will, ist folgendes: Was immer dieses Wesen vermag, vermögen die Toten vielleicht auch. Oder, was noch wichtiger wäre: Selbst wenn Lasher diese Struktur besitzt, könnte er immer noch der bösartige Geist eines Menschen sein, der einmal gelebt hat.«
»Das ist ein Thema für Ihre Bibliothek in London, Aaron. Eines Tages können wir vielleicht dort am Kamin sitzen und darüber plaudern. Aber jetzt fahre ich nach Hause und bleibe bei ihr. Wie Sie sagten: Das Beste, was ich tun kann, ist in ihrer Nähe zu bleiben.«
»Ja, da haben Sie recht«, bestätigte Aaron. »Aber ich muß immer wieder darüber nach denken, was diese alten Männer sagten. Über die Erlösung. Eine so seltsame Legende.«
»Aber in dem Punkt haben sie sich geirrt. Sie ist die Tür. Irgend wie wußte ich das, als ich die Familiengruft sah.«
Aaron seufzte nur und schüttelte den Kopf. Michael sah, daß er damit nicht zufrieden war, daß es noch mehr gab, was er erwägen wollte. Aber was spielte das jetzt für eine Rolle? Rowan war mit diesem Wesen allein zu Hause, und das Wesen war dabei, sie ihm zu stehlen, und Rowan kannte inzwischen alle Antworten, oder nicht?
Unruhig sah er zu, wie Aaron ein wenig steifbeinig aufstand und zum Wandschrank ging, um seine Jacke und die Handschuhe zu holen.
»Bitte seien Sie sehr vorsichtig«, sagte Aaron.
»Ja. Ich werde morgen abend an Sie denken. Wissen Sie, für mich war der Heilige Abend immer so etwas wie Silvester. Ich weiß nicht, warum. Muß am irischen Blut liegen.«
»Am katholischen Blut«, brummte Aaron. »Aber ich verstehe.«
»Wenn Sie morgen abend den Brandy aufmachen, nehmen Sie auch einen für mich.«
»Das werde ich tun. Verlassen Sie sich darauf. Und, Michael… sollten Sie und Rowan aus irgendeinem Grund herkommen wollen – Sie wissen, diese Tür steht Ihnen offen. Am Tag und in der Nacht. Betrachten Sie dieses Haus als Ihre Zuflucht.«
»Danke, Aaron.«
»Und noch etwas. Wenn Sie mich brauchen, wenn Sie wirklich wollen, daß ich komme, und wenn Sie glauben, daß ich es tun sollte – nun, dann werde ich kommen.«
Michael wollte protestieren, wollte erklären, daß Aaron hier am besten aufgehoben sei, aber Aaron hatte den Blick abgewandt, und seine Miene hatte sich aufgehellt; unvermittelt deutete er auf das Bogenfenster über der Haustür.
»Es schneit, Michael, schauen Sie nur – es schneit tatsächlich. Nicht einmal in London gibt es Schnee, und hier schneit es.«
»Und das am Tag vor Weihnachten, Aaron«, sagte Michael. Er bemühte sich, das ganze prächtige Bild auf einmal in sich aufzunehmen: die ehrwürdige und phantastische Allee alter Bäume, die
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