Hexenstunde
einfach buchstabengetreu interpretieren könnte.«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen. Was ist eine buchstabengetreue Interpretation? Was gäbe es sonst für Interpretationen? Ich begreife das alles nicht.«
»Michael, sie hat in Rätseln gesprochen. Es war weniger ein Gespräch als vielmehr die Demonstration eines Kampfes. Ich muß Sie noch einmal daran erinnern: Dieser Geist kann, wenn er will, hier bei uns im Zimmer sein. Es gibt keinen sicheren Ort, an dem wir laut unsere Pläne gegen ihn schmieden können. Stellen Sie sich einen Boxkampf vor, bei dem der eine Gegner die Gedanken des anderen lesen kann. Stellen Sie sich einen Krieg vor, in dem der Feind jede denkbare Strategie von Anfang an durchschaut.«
»Das erhöht das Risiko, erhöht die Spannung – aber unmöglich ist es nicht.«
»Das stimmt. Aber es hat keinen Zweck, Ihnen alles zu erzählen, was Rowan zu mir gesagt hat. Es mag genügen, daß Rowan die fähigste Gegnerin ist, die dieses Wesen je gehabt hat.«
»Aaron, Sie haben sie vor langer Zeit gewarnt, daß dieses Wesen versuchen würde, sie von uns zu trennen. Sie haben sie davor gewarnt, daß es versuchen würde, sie abzuspalten von denen, die sie liebt.«
»Ja, und ich bin sicher, sie erinnert sich daran. Aber die Entscheidung muß sie selbst treffen.«
»Mit anderen Worten: Wir müssen abwarten und sie diesen Kampf allein ausfechten lassen.«
»Mit anderen Worten: Sie tun, was Ihnen zu tun bestimmt ist. Lieben Sie sie. Bleiben Sie in ihrer Nähe. Erinnern Sie sie durch Ihre bloße Gegenwart an das, was natürlich und in sich gut ist. Dies ist ein Kampf zwischen dem Natürlichen und dem Unnatürlichen, Michael. Ganz gleich, woraus dieses Wesen besteht oder woher es kommt – dies ist ein Kampf zwischen dem normalen Leben und einer Verirrung.« Er lächelte betrübt. »Ihr Leben lang hat Rowan vor dieser Kluft zwischen dem Natürlichen und dem Verirrten gestanden. Sie ist im Grunde ihres Wesens ein konservativer Mensch. Und Kreaturen wie Lasher können die Natur einer Person nicht ändern. Sie können an Charakterzügen arbeiten, die bereits vorhanden sind. Niemand hat sich diese wunderbare weiße Hochzeit mehr gewünscht als Rowan. Niemand wünscht sich die Familie so sehr wie sie. Niemand will das Kind in ihrem Leib so sehr wie sie.«
»Sie spricht überhaupt nicht mehr von dem Baby, Aaron. Sie hat nicht einmal mehr seine Existenz erwähnt, seit ich wieder da bin. Ich wollte es heute abend auf der Party der Familie eröffnen, aber sie will es nicht. Sie sagt, sie ist noch nicht soweit. Und diese Party – ich weiß, daß es eine Qual für sie sein wird. Sie macht nur noch der Form halber mit. Beatrice hat sie dazu gebracht.«
»Ja, ich weiß.«
»Ich rede andauernd von dem Baby. Ich küsse sie und nenne es ›Little Chris‹ – das ist der Name, den ich ihm gegeben habe -, und dann lächelt sie, und es ist, als wäre sie nicht Rowan. Aaron, ich werde sie und das Baby verlieren, wenn sie ihre Schlacht gegen ihn verliert. Weiter kann ich nicht denken.«
»Gehen Sie nach Hause, und bleiben Sie bei ihr. Bleiben Sie in ihrer Nähe. Das ist es doch, was sie Ihnen aufgetragen haben.«
»Und ich soll sie nicht zur Rede stellen? Ist es das, was Sie mir sagen wollen?«
»Sie werden sie nur zum Lügen zwingen, wenn Sie es tun. Oder zu Schlimmerem.«
»Und wenn wir beide zusammen nach Hause fahren und versuchen, vernünftig mit ihr zu reden und sie dazu zu bringen, daß sie sich von ihm abwendet?«
Aaron schüttelte den Kopf. »Wir beide haben unser kleines Duell bereits hinter uns, sie und ich. Deshalb habe ich mich für heute abend bei Bea entschuldigt. Ich würde sie und ihren unheimlichen Partner nur herausfordern, wenn ich käme. Aber wenn ich dächte, daß es etwas nützen könnte, würde ich kommen. Ich würde alles riskieren, wenn ich dächte, ich könnte helfen. Aber ich kann es nicht.«
Michael nickte. »Gut. Wissen Sie, es ist, als wäre sie mir untreu.«
»Aber so dürfen Sie es nicht sehen. Sie dürfen nicht zornig werden.«
»Das sage ich mir auch immer.«
»Es gibt noch etwas, das ich Ihnen sagen muß. Wahrscheinlich ist es in letzter Konsequenz nicht mehr wichtig, aber ich will es Ihnen doch nicht vorenthalten. Falls mir etwas zustoßen sollte… nun, ich möchte, daß Sie es wissen, was immer es wert sein mag.«
»Sie glauben doch nicht, daß Ihnen etwas passieren wird?«
»Das weiß ich wirklich nicht. Aber hören Sie mich an. Seit Jahrhunderten zerbrechen wir uns den
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