Hexenstunde
einen hübschen fünfzackigen Stern.
»Ach, ich hab’ sie schon seit Jahren. Auf dem College habe ich angefangen, sie zu sammeln. Ich habe nicht gewußt, daß sie für diesen Baum und für diesen Raum bestimmt sein würden, aber das waren sie. Hier, du mußt das erste Stück aus suchen. Ich habe nur auf dich gewartet. Ich dachte, wir machen’s zusammen.«
»Den Engel«, sagte sie, und sie nahm die Figur beim Haken und hielt sie gegen den Baum, um sie so im weichen Licht besser sehen zu können. Der Engel hatte eine kleine vergoldete Harfe in den Händen, und sogar das Gesichtchen war sorgfältig mit einem roten Mund und blauen Augen bemalt. Sie hob ihn so hoch, wie sie konnte, und schob den krummen Haken über den dickeren Teil eines zitternden Zweiges. Der Haken war im Schatten fast unsichtbar, und bebend schwebte der Engel dort, fast wie ein Kolibri.
»Was habe ich hier nur ohne dich angefangen?« fragte sie. Er legte ihr die Arme um die Taille, und sie umfaßte sie mit beiden Händen; sie liebte das Gefühl der sehnigen Muskeln, der großen, starken Finger, die sie so fest hielten.
Für einen Augenblick sah sie nichts als den üppigen Baum und das hübsche Spiel der funkelnden Lichter im tiefen Schatten der grünen Zweige, und sie hörte nichts als die schwermütige Melodie des Weihnachtsliedes, und der Augenblick schwebte in der Zeit wie der zarte Engel. Es gab keine Zukunft und keine Vergangenheit.
»Ich bin so froh, daß du wieder da bist«, flüsterte sie und schloß die Augen. »Es war unerträglich hier ohne dich. Nichts hat Sinn ohne dich. Ich will nie wieder ohne dich sein.« Und ein tiefer Schmerz durchpochte sie – ein wütendes, furchtbares Beben, das sie in sich verschloß, als sie sich zu ihm umdrehte und ihren Kopf wieder an seine Brust legte.
46
23. Dezember. Harter Nachtfrost. Reizend – wo doch alle Mayfairs zu Cocktails und Weihnachtsliedern erwartet wurden. Wenn man sich vorstellte, wie all die Autos über die vereisten Straßen rutschten. Aber es war wunderbar, zu Weihnachten dieses saubere, kalte Wetter zu haben. Und Schnee war auch angesagt.
»Weiße Weihnachten – kannst du dir das vorstellen?« fragte Michael. Er schaute zum vorderen Schlafzimmerfenster hinaus, während er sich Pullover und Lederjacke überzog. »Vielleicht schneit es sogar heute abend.«
»Das wäre wundervoll für die Party«, sagte er. »Der Wetterbericht sagt, es wird schneien. Und ich sage dir noch etwas, Rowan: Wir hatten weiße Weihnachten in dem Jahr, als ich hier fortging.«
Er zog einen Wollschal aus der Kommode und stopfte ihn in den Kragen seiner Jacke. Dann nahm er seine dicken, wollgefütterten Handschuhe.
»Ich werd’s nie vergessen. Ich sah zum erstenmal in meinem Leben Schnee. Und ich ging dort unten spazieren, auf der First Street, und als ich nach Hause kam, erfuhr ich, daß mein Dad tot war.«
»Wie ist das passiert?« So mitfühlend sah sie aus; ihre Brauen zogen sich ein wenig zusammen. Ihr Gesicht war so glatt, daß die leiseste Bestürzung sich wie ein Schatten darüber legte.
»Ein Brand in einem Lagerhaus an der Tchoupitoulas Street«, sagte er. »Einzelheiten habe ich nie erfahren. Anscheinend hatte der Brandmeister ihnen befohlen, unter dem Dach rauszukommen, weil es einzustürzen drohte. Einer der Jungs stürzte, und mein Dad rannte zurück, um ihn zu holen, und da knickte das Dach ein. Es hieß, es habe sich aufgewellt wie eine Brandungswoge, und dann ist es eingestürzt. Der ganze Laden ist regelrecht explodiert. Alles in allem haben sie an dem Tag drei Feuerwehrmänner verloren. Und ich spazierte derweilen im Garden District herum und freute mich über den Schnee. Deshalb sind wir dann nach Kalifornien gegangen. Von den Currys war keiner mehr da – Onkel und Tanten, alle begraben, draußen auf dem St.-Josephs-Friedhof. Alle begraben durch Lonigan und Söhne. Jeder einzelne.«
»Das muß ja schrecklich für dich gewesen sein.«
Er schüttelte den Kopf. »Das Schreckliche war, daß ich froh war, nach Kalifornien zu kommen, und daß ich wußte, wir hätten nie dorthin ziehen können, wenn er nicht gestorben wäre.«
»Komm her, setz dich und trink deine Schokolade; sie wird sonst kalt. Bea und Cecilia werden jeden Augenblick kommen.«
»Ich muß los. Hab’ zuviel zu erledigen. Muß ins Geschäft, nach sehen, ob die Kisten gekommen sind. Ach, und dann muß ich dem Partyservice Bescheid sagen… ich habe vergessen, sie anzurufen.«
»Nicht nötig. Ryan hat
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