Hexenstunde
ihre dunklen, knotigen Arme den fallenden, sanft wirbelnden Schneeflocken entgegenreckten. »Ein kleines Wunder, daß es jetzt schneit. O Gott, es wäre alles so wunderbar, wenn…«
»Mögen alle Ihre Wunder klein sein, Michael.«
»Ja, die kleinen Wunder sind die besten, nicht wahr? Schauen Sie nur, er schmilzt auch nicht am Boden. Er bleibt wirklich liegen. Wir werden weiße Weihnachten haben, kein Zweifel.«
»Aber warten Sie«, sagte Aaron, »jetzt hätte ich es doch fast vergessen. Ihr Weihnachtsgeschenk – hier habe ich es.« Er griff in die Tasche seiner Strickjacke und zog ein sehr kleines, flaches Päckchen heraus, nicht größer als ein Halbdollarstück. »Machen Sie es auf.«
Michael riß das dünne Goldpapier ab und sah, daß es ein altes Silbermedaillon an einer Kette war. »St. Michael, der Erzengel«, stellte er lächelnd fest. »Aaron, das ist ausgezeichnet. Sie sprechen meine abergläubische irische Seele an.«
»Er jagt den Teufel zurück in die Hölle«, sagte Aaron. »Ich habe es in einem kleinen Geschäft an der Magazine Street entdeckt, als Sie verreist waren. Ich habe gleich an Sie gedacht, und ich dachte mir, Sie würden’s gerne haben.«
»Danke, alter Freund.« Michael betrachtete das grobe Bild; es war abgegriffen wie bei einer alten Münze. Aber er erkannte den geflügelten Michael mit seinem Dreizack über dem gehörnten Teufel, der rücklings in den Flammen lag. Er hob die Kette; sie war so lang, daß er sie nicht öffnen mußte. Er zog sie über den Kopf und ließ das Medaillon unter seinen Pullover fallen.
Einen Moment lang schaute er Aaron an. Dann umarmte er ihn und hielt ihn fest.
»Seien Sie auf der Hut, Michael«, bat Aaron. »Und rufen Sie mich sehr bald an.«
49
Der Friedhof war für die Nacht geschlossen, aber das machte nichts. Dunkelheit und Kälte machten nichts. Das Schloß am Seitentor würde kaputt sein, und es würde ein Kinderspiel sein, das Tor aufzustoßen und wieder zu schließen und dann den verschneiten Weg entlang zu gehen.
Sie fror, aber auch das machte nichts. Der Schnee war so schön. Sie wollte das Grab schneebedeckt sehen.
»Du wirst es für mich finden, nicht wahr?« flüsterte sie. Es war beinahe stockfinster, und sie würden bald kommen; sie hatte nicht mehr viel Zeit.
Du weißt, wo es ist, Rowan, sagte er mit seiner feinen, zarten Stimme in ihrem Kopf.
Sie wußte es auch. Es stimmte. Sie blieb vor der Gruft stehen, und der Wind war eisig; er pfiff geradewegs durch ihr dünnes Hemd. Da waren die zwölf hübschen kleinen Grabsteine, einer vor jeder Kammer, und darüber war das Relief der schlüssellochförmigen Tür.
»Niemals sterben.«
Das ist mein Versprechen, Rowan. Das ist der Pakt zwischen dir und mir. Wir haben bald den Augenblick des Anfangs erreicht…
»Niemals sterben – aber was hast du den anderen versprochen? Du hast ihnen doch etwas versprochen. Du lügst.«
O nein, meine Geliebte, niemand ist mehr wichtig außer dir. Sie sind alle tot.
Alle ihre Knochen liegen dort unten in der gefrorenen Schwärze. Auch Deirdre – völlig regungslos, vollgepumpt mit Chemikalien, kalt in ihrer satingefütterten Kiste. Kalt und tot.
»Mutter.«
Sie kann dich nicht hören, meine Schöne. Sie ist fort. Wir sind hier, du und ich.
»Wie kann ich die Tür sein? War es schon immer so bestimmt, daß ich die Tür sein sollte?«
Schon immer, mein Liebling, und der Augenblick ist fast gekommen. Noch eine Nacht wirst du mit deinem Engel aus Fleisch und Blut verbringen, und dann wirst du mein sein für alle Zeit. Die Sterne bewegen sich am Himmel. Sie ordnen sich zum vollkommenen Muster.
Der Marmor fühlte sich an wie Eis. Sie legte ihre Finger in die Buchstaben – DEIRDRE MAYFAIR. Das Relief der Schlüssellochtür konnte sie nicht erreichen.
»Und du wirst mir zeigen, wie ich die Tür sein soll?«
Du weißt es schon, mein Liebling. In deinen Träumen und in deinem Herzen hast du es immer gewußt.
Schnell ging sie durch den Schnee. Ihre Füße waren naß, aber das machte nichts. Die Straßen lagen leer und glänzend in der grauen Abenddämmerung. Der Schnee war so leicht, daß er aussah wie eine Luftspiegelung. Sie würden bald kommen.
Um sie herum war Dunkelheit, und sie kamen alle. Es kam darauf an, daß sie so tat, als sei alles normal. Sie ging, so schnell sie konnte. Ihre Kehle brannte. Aber die kalte Luft fühlte sich so gut an; sie umwehte sie eisig und kühlte das Fieber in ihr.
Und das Haus war dunkel und wartete.
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