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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Mardi-Gras-Kadenzen der Marschtrommeln, den Klang der Comus-Parade, die am müden, öden Rand der Mardi-Gras-Nacht eilends durch die winterliche Dunkelheit zog, und das Flackern der Flammen war das Flackern der Fackeln unter den verkrümmten Ellbogen der Eichen, und seine Angst war die allwissende Angst des kleinen Jungen von früher, und alles war da, alles, was er gefürchtet hatte, geschah endlich, und es war nicht bloß ein rascher Blick auf den Rand eines Traumes oder etwas, das er sah, weil er Deirdres Nachthemd in der Hand hielt, sondern es war hier, rings um ihn herum.
    Seine Füße waren auf dampfenden Boden gestoßen, und als er aufstehen wollte, sah er, daß die Äste der Eichen geradewegs durch die Stuckdecke des Salons gestoßen waren und den Kronleuchter mit einem Gewirr von Blättern durchflochten hatten; sie streiften die hohen Spiegel an der Wand. Und es war wirklich das Haus. Zahllose Leiber wanden sich im Dunkeln. Er stand auf ihnen! Graue, nackte Gestalten, die windend sich paarten im Schein der Flammen und im Schatten, und der Rauch wallte empor und verhüllte die Gesichter all derer, die ihn umgaben und anschauten. Aber er wußte, wer sie waren. Taftröcke, Stoff, der ihn streifte. Er stolperte und versuchte, sein Gleichgewicht wiederzufinden, aber seine Hand ging glatt durch brennenden Stein, und seine Füße versanken im dampfenden Schlamm.
    Die Nonnen näherten sich rings um ihn herum, große, schwarzgewandete Gestalten mit steifen weißen Hauben, Nonnen, deren Namen und Gesichter er seit seiner Kindheit kannte, mit rasselnden Rosenkränzen, und ihre Füße hallten auf den Holzdielen, als sie immer näherkamen und den Kreis um ihn schlössen. Stella trat durch den Kreis; ihr kunstvoll frisiertes Haar glänzte von Pomade. Plötzlich griff sie nach ihm, zog ihn zu sich heran.
    »Laß ihn in Ruhe; er kann allein aufstehen«, sagte Julien. Und da war er auch, höchstpersönlich, mit seinen weißen Locken und den kleinen, glitzernden schwarzen Augen, makellos und fein gekleidet, und jetzt hob er die Hand und winkte lächelnd.
    »Komm, Michael, steh auf«, sagte er mit seinem starken französischen Akzent. »Du bist jetzt bei uns, es ist zu Ende, hör auf, dich zu wehren.«
    »Ja, steh auf«, sagte Mary Beth, und ihr dunkler Taftrock streifte sein Gesicht. Eine große, vornehme Frau mit durch und durch grau gesträhntem Haar.
    »Du bist jetzt bei uns, Michael.« Das war Charlotte mit ihren strahlend blonden Haaren. Ihr Busen wölbte sich über dem taftenen Miederdécolleté. Sie zog ihn hoch, obgleich er in panischer Hast zu flüchten versuchte. Seine Hand fuhr geradewegs durch ihre Brust.
    »Hört auf! Geht weg von mir!« rief er. »Geht weg!«
    Stella war nackt bis auf ein Hemdchen, das von ihren Schultern herabfiel, und die eine Seite ihres Kopfes troff noch vom Blut aus der Schußwunde.
    »Komm, Michael, du bist jetzt hier, für immer, siehst du das nicht, es ist zu Ende, Darling. Du hast deine Arbeit gut gemacht.«
    Die Trommeln kamen stampfend näher und näher, hämmerten zu den durch dringenden Klängen einer Dixieland-Band, und der Sarg stand offen am Ende des Zimmers, von Kerzen umgeben. Aber die Kerzen würden die Vorhänge in Brand setzen, und das ganze Haus würde in Flammen aufgehen!
    »Illusionen, Lügen!« rief er. »Das ist ein Trick.« Er versuchte, aufrecht zu stehen und eine Richtung zu finden, in die er fliehen könnte, aber wohin er auch schaute, überall sah er nur die Sprossenfenster mit den neuen Scheiben, die Schlüssellochtüren, die Eichenäste, die die Decke und die Wände durchbohrten, und das ganze Haus, das sich immer wieder neu bildete wie eine große, monströse Falle um die aufwärtsstrebenden, knorrigen Bäume, die Flammen, die sich in den hohen, schmalen Spiegeln reflektierten, Sofas und Sessel, von Efeu und blühenden Kamelien überwuchert.
    Die Hand der Nonne fuhr plötzlich wie ein Brett herab und traf seine Wange, und der Schmerz erschreckte und reizte ihn bis zur Raserei. »Was hast du zu sagen, Junge! Natürlich bist du hier! Steh auf!« Diese donnernde, rauhe Stimme. »Antworte mir, Junge!«
    Julien stand da, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und schüttelte den Kopf. Und hinter Julien stand der gutaussehende Cortland mit dem gleichen Gesichtsausdruck wie sein Vater, dem gleichen spöttischen Lächeln.
    »Michael, es dürfte auch für dich völlig offensichtlich sein, daß du deinen Auftrag hervorragend erfüllt hast«, sagte Cortland. »Daß du

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