Hexenstunde
Angst, daß ihm wieder schlecht werden könnte. »Es schneit nicht mehr, wie?« fragte er. Die Antwort hörte er kaum.
Er zwang sich zum Sitzen. Nicht annähernd so schlimm wie vorher. Kopfschmerzen, ja, und ein bißchen verschwommen der Blick. Nichts war so grausig wie ein Kater.
Seine Kleider waren im Wandschrank. Hübsches Reiserasierzeug da in der Plastikhülle auf der Spiegelablage im Bad. Er duschte, kämpfte gelegentliche Schwindelanfälle nieder, rasierte sich schnell mit dem kleinen Wegwerfrasierer und kam aus dem Bad.
»Ich muß wieder hin, muß feststellen, was passiert ist.«
»Ich flehe Sie an, warten Sie noch«, sagte Aaron. »Essen Sie erst. Und dann sehen Sie, wie Sie sich fühlen.«
»Ist egal, wie ich mich fühle. Können Sie mir einen Wagen geben? Ich fahre per Anhalter, wenn nicht.«
Er schaute zum Fenster hinaus. Es lag noch Schnee. Die Straßen würden gefährlich sein. Er mußte jetzt los.
»Was haben Sie vor? Sie haben keine Ahnung, was Sie vorfinden werden. Gestern abend hat sie mir gesagt, wenn mir an Ihnen liegt, sollte ich dafür sorgen, daß Sie nicht zurück kommen.«
»Zum Teufel mit allem, was sie gesagt hat. Ich gehe.«
»Dann komme ich mit.«
»Nein, Sie bleiben hier. Das ist eine Sache zwischen ihr und mir. Jetzt beschaffen Sie mir einen Wagen. Ich fahre.«
Es war ein großer, klobiger grauer Lincoln, kaum das, was er sich ausgesucht hätte, aber der weiche Ledersitz fühlte sich gut an, und das Ding schwebte wirklich nur so dahin, als er schließlich den Interstate Highway erreicht hatte. Bis dahin war Aaron ihm in seiner Limousine gefolgt. Aber jetzt war nichts mehr von ihm zu sehen; er hatte ihn abgehängt.
Der Schnee lag in schmutzigen Haufen am Straßenrand. Aber das Eis war geschmolzen. Und der Himmel war von jenem makellosen, höhnischen Blau, das alles sauber und weit offen erscheinen ließ. Der Kopfschmerz erfaßte ihn und überflutete ihn alle Viertelstunde mit einer Welle von Schwindel und Übelkeit. Er schüttelte das alles ab und behielt den Fuß auf dem Gaspedal.
Mit neunzig Meilen pro Stunde fuhr er nach New Orleans hinein und geriet fast ins Schleudern, als er in die St. Charles Avenue abbog und zu heftig bremste. Der Verkehr kroch hier zwischen gefrorenen Streifen von schmutzigem Schnee dahin.
Fünf Minuten später bog er nach links in die First Street ein, und wieder geriet der Wagen gefährlich ins Schleudern. Er bremste und fuhr im Kriechtempo über den glatten Asphalt, bis das Haus an der dunkel überschatteten, verschneiten Straßenecke wie eine düstere Festung vor ihm aufragte.
Das Gartentor stand offen. Er schob den Schlüssel ins Schloß und öffnete die Haustür.
Für einen Augenblick blieb er wie erstarrt stehen. Überall war Blut auf dem Boden, verschmiert und streifig, und am Türrahmen war der blutige Abdruck einer Hand. Etwas, das aussah wie Ruß, bedeckte die Wände und verblaßte zur Decke hin zu fahlem Staub.
Es roch faulig wie in dem Krankenzimmer, in dem Deirdre gestorben war.
Verschmiertes Blut auch an der Tür zum Wohnzimmer. Spuren von nackten Füßen. Blut auch auf dem chinesischen Teppich, und eine dicke, schleimartige Flüssigkeit auf den Holzdielen. Am Weihnachtsbaum brannten alle Lichter; wie ein stummer Wächter stand er da, ein blinder und tauber Zeuge, der nichts aussagen konnte über das Grauen, das hier gehaust hatte.
Der Schmerz explodierte in seinem Kopf, aber er war nichts im Vergleich zu dem Schmerz in seiner Brust und dem rasenden Pochen seines Herzens. Adrenalin durchflutete seine Adern. Und seine rechte Hand ballte sich krampfhaft zur Faust.
Er drehte sich um, verließ den Salon und ging in die Diele hinaus, auf das Eßzimmer zu.
Ohne einen Laut trat hinter ihm eine Gestalt in die schlüssellochförmige Tür und schaute ihn an, und eine schlanke Hand glitt am Türrahmen hinauf.
Es war eine merkwürdige Geste. Die Gestalt hatte etwas unübersehbar Unsicheres, als taumele sie wie nach einem Schock, und als sie jetzt in das Licht trat, das von der Sonnenveranda hinein schien, blieb Michael stehen, betrachtete sie und bemühte sich zu verstehen, was er da sah.
Es war ein Mann, bekleidet mit weiter, zerknitterter Hose und Hemd, aber Michael hatte einen solchen Mann noch nie gesehen. Er war groß, vielleicht einen Meter neunzig, und unverhältnismäßig schlank. Seine Hose war zu groß und anscheinend an der Taille zusammengeschnürt. Das Hemd gehörte Michael; es war ein altes Sweatshirt, das wie eine
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