Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
Tür hinaus, als Rowan auf ihn zustürzte. Er rannte geradewegs auf das Ding zu, schlitterte über den gefrorenen Schnee, riß sich los, als sie ihn festhalten wollte. Sie fiel hin wie eine wächserne Puppe, und ein scharfer Schmerz schnitt sich in seinen Hals. Sie hatte das St. Michaels-Medaillon bei seiner Kette zu fassen bekommen, und jetzt hielt sie die zerrissene Kette in der Hand, und das Medaillon fiel in den Schnee. Schluchzend flehte sie ihn an, stehen zu bleiben.
    Aber er hatte keine Zeit für sie. Er wirbelte herum, und seine machtvolle Linke fuhr herauf und krachte seitlich gegen den Schädel der Kreatur. Das Ding stieß perlendes Gelächter aus, als Blut aus der geplatzten Haut spritzte. Es kippte, wirbelte im Kreis, rutschte über das Eis, taumelte gegen die Eisenstühle und warf sie durch einander.
    »Oh, sieh nur, was du getan hast, oh, du ahnst nicht, was für ein Gefühl das ist! Oh, für diesen Augenblick habe ich gelebt, für diesen außergewöhnlichen Augenblick!«
    Mit einer unvermittelten Pirouette schoß es auf Michaels rechten Arm zu, bekam ihn zu fassen und verdrehte ihn schmerzhaft. Dabei schaute es ihn an mit hochgezogenen Brauen, die Lippen zu einem Lächeln verzerrt, und perlweiße Zähne blitzten vor einer rosaroten Zunge. Alles neu, alles glänzend, alles jungfräulich – ein Baby.
    Michael rammte ihm die Linke in die Brust und spürte das Knirschen von Knochen.
    »Ja, das gefällt dir, du Höllending, du gierige Hundebrut! Stirb!« Er spuckte das Ding an und schlug noch einmal mit der linken Faust darauf ein, während es sich an sein rechtes Handgelenk klammerte wie eine Fahne im Wind. »Es gefällt dir!« brüllte er. »Dir gefällt dein blutendes Fleisch, das Fleisch meines Kindes, mein Fleisch!« Er drehte und wand die rechte Hand, aber er konnte sich nicht befreien, und so krallte er die Finger der Linken um die Kehle des Dings, bohrte den Daumen in die Luftröhre und rammte ihm zugleich sein Knie zwischen die Beine. »Oh, sie hat dich wirklich vollständig gemacht, was? Es ist alles dran!«
    In einem kurzen Blitz sah er wieder Rowan, aber diesmal war es das Monstrum, das sie niederstieß, als es Michael endlich losließ. Sie fiel gegen die Balustrade.
    Das Ding quiekte vor Schmerzen, und seine blauen Augen rollten in ihren Höhlen. Bevor Rowan auf die Beine kam, wich es blitzschnell zurück und hob die Schultern wie ein Flügelpaar, und dann senkte es den Kopf und schrie: »Du lehrst es mich, Vater! O ja, du bist ein guter Lehrer.« Seine Worte gingen in ein Grollen über. Das Monstrum rannte gegen Michael an, rammte ihm den Kopf in die Brust und traf ihn mit einem machtvollen Schlag, der ihn von den Füßen hob und in den Pool fliegen ließ.
    Rowan stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus, lauter und schriller als die Alarmsirene.
    Michael war in das eisige Wasser gestürzt. Er sank tiefer, immer tiefer, und hoch über ihm glitzerte die blaue Oberfläche. Der Kälteschock trieb ihm die Luft aus der Lunge. Er hing starr in der brennenden Kälte: nicht einmal die Arme konnte er bewegen, bis sein Körper über den Grund schürfte.
    Dann strampelte er verzweifelt und krampfhaft zur Wasseroberfläche. Seine Kleider umklammerten ihn wie Finger und hielten ihn am Boden. Als er mit dem Kopf durch den Wasserspiegel in das gleißende Licht hinaufbrach, traf ihn wieder ein dumpfer Schlag, und er versank von neuem. Und jetzt wurde er unter Wasser gedrückt. Seine Hände reckten sich hinauf in die Luft, in die leere Luft, griffen vergebens nach dem Ding, das ihn festhielt, und sein Mund schluckte kaltes Wasser, schluckte und schluckte. Und blitzartig sah er wieder den Pazifik, endlos und grau, und die Lichter von Cliff House, die trüb wurden und dann ganz verschwanden, als die Wellen ringsumher anschwollen.
    Nur stieg er diesmal nicht empor, er schwebte nicht schwerelos und frei wie an jenem weit zurück liegenden Tag, hoch hinauf in den bleigrauen Himmel und die Wolken, wo er die ganze Erde unter sich sehen konnte, mit ihren Millionen und Abermillionen winziger Lebewesen.
    Diesmal befand er sich in einem Tunnel, und er wurde hinabgesogen; es war dunkel und eng, und seine Reise schien nie mehr enden zu wollen. In machtvoll rauschender Stille sauste er abwärts, völlig willenlos und von unbestimmtem Staunen erfüllt.
    Endlich umfing ihn stark pulsierendes rötliches Licht. Er war an einen vertrauten Ort gefallen. Ja, die Trommeln, er hörte die Trommeln, die alten, vertrauten

Weitere Kostenlose Bücher