Hexenstunde
beinahe ständig Unfallopfer operieren konnte.
Sie mußte zugeben, daß sie die Arbeit verklärte, daß sie ganz in ihr aufging und daß sie es verdrängte, daß sie im Grunde nichts anderes war als eine bis zur kritischen Grenze der Erschöpfung überarbeitete Chirurgin, die immer noch fünfzig Prozent ihrer Operationen unter den Augen anderer durchführen mußte.
Selbst das unausweichliche Gerede war heute nicht so schlimm gewesen – die endlosen Sticheleien im OP, das Diktieren der Notizen danach und schließlich die Besprechung im Kaffeezimmer, die sich immer endlos lange hinzog. Sie mochte diese Ärzte um sie herum, die Assistenzärzte mit den glänzenden Gesichtern, die ihr gegen übersaßen, Dr. Peters und Dr. Blake, die ihre Assistenzzeit gerade eben begonnen hatten und sie anschauten, als sei sie eine Hexe und keine Ärztin. Dr. Simmons, der Oberarzt, der ihr hin und wieder in hitzigem Flüsterton erzählte, daß sie die beste Ärztin sei, die er je in der Chirurgie gesehen hatte, und daß die Schwestern das gleiche sagten, und Dr. Larkin, der beliebte Chef der Neurochirurgie, unter seinen Schützlingen bekannt als Lark, »die Lerche«, der sie heute wieder und wieder genötigt hatte, ihre Vorgehensweise ausführlich zu erläutern – »Erklären, Rowan, detailliert erklären. Sie müssen diesen Jungs sagen, was Sie tun. Meine Herren, sehen Sie her: Dies ist die einzige Neurochirurgin in der westlichen Zivilisation, die nicht gern über ihre Arbeit spricht.«
Und jetzt unterhielten sie sich, Gott sei Dank, über Dr. Larkins virtuose Leistung bei dem Meningiom vom Nachmittag, und sie konnte sich von dieser köstlichen Erschöpfung treiben lassen, den Geschmack der Zigarette und den schauderhaften Kaffee genießen, das herrliche Gleißen des Lichts auf den wunderbar kahlen Wänden.
Das Dumme war, sie hatte sich heute morgen eingeschärft, diese private Sache nicht zu vergessen, diesen Anruf, irgend etwas, das wirklich wichtig für sie war… Was war es nur gewesen? Es würde ihr wieder einfallen, wenn sie das Gebäude verließe.
Und das konnte sie ja jetzt tun. Wann immer es ihr paßte. Sie war schließlich die aufsichtführende Ärztin. Sie brauchte nicht länger als fünfzehn Stunden hier zu bleiben. Nie wieder mußte sie im Bereitschaftszimmer schlafen, und niemand erwartete, daß sie in die Notaufnahme hinunterging, nur um nachzusehen, was los war – obwohl sie vielleicht gerade das am liebsten getan hätte.
Vor zwei Jahren noch wäre sie um diese Zeit längst fort gewesen, wäre mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit über die Golden Gate gebraust, begierig danach, wieder Rowan Mayfair zu sein, und hätte die Sweet Christine einhändig aus der Richardson Bay hinaus aufs freie Meer gesteuert. Erst wenn sie den Autopiloten auf einen weiträumigen Kreiskurs gestellt hätte, weit abseits der Fahrrouten, hätte sie sich von der Erschöpfung übermannen lassen. Dann wäre sie unter Deck gegangen, in die Kajüte, wo das Holz ebenso glänzte wie das polierte Messing, und dort hätte sie sich in die Doppelkoje fallen lassen, um in einen leichten Schlaf zu versinken, den all die kleinen Geräusche des Bootes süß durchdrungen hätten.
Aber das war gewesen, bevor sie süchtig danach geworden war, am Operationstisch Wunder zu wirken. Hin und wieder hatte noch die Forschung gelockt. Und Ellie und Graham, ihre Adoptiveltern, hatten noch gelebt, und das Haus mit der riesigen Fensterfront am Tiburon-Ufer war kein Mausoleum gewesen, angefüllt mit den Büchern der Toten und den Kleidern der Toten.
Sie mußte durch dieses Mausoleum gehen, um zur Sweet Christine zu gelangen. Sie mußte die Post sehen, die unweigerlich noch immer für Ellie und Graham kam, und vielleicht sogar auf dem Anrufbeantworter die eine oder andere Nachricht von einem Freund aus einer anderen Stadt abhören, der nicht wußte, daß Ellie im vergangenen Jahr an Krebs gestorben war und daß Graham zwei Monate vor Ellies Tod, einfach ausgedrückt, von einem »Schlaganfall« dahingerafft worden war. Sie goß die Farnpflanzen immer noch im Gedenken an Ellie, die ihnen Musik vorgespielt hatte. Sie fuhr Grahams Jaguar, weil es eine Plage gewesen wäre, ihn zu verkaufen. Seinen Schreibtisch hatte sie nie ausgeräumt.
Ein Schlaganfall. Ein dunkles, häßliches Gefühl zog über ihr hinweg. Nicht daran denken, wie Graham auf dem Küchenfußboden gestorben war, sondern an die Triumphe des heutigen Tages. In den letzten fünfzehn Stunden hast du
Weitere Kostenlose Bücher