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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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jetzt ein bißchen besser verstand als damals, als Graham mit ihr darüber gestritten hatte. Sie begriff, welche Verbindung zwischen ihr und diesen uniformierten Helden bestand: Daß es das gleiche war, ob man in den Operationssaal ging und sich die sterilen Handschuhe überzog und nach Mikrokoagulator und Mikroskalpell griff oder ob man in ein brennendes Haus stürmte oder mit der Waffe in der Hand bei irgendeinem Familienstreit dazwischenging, um die Frau und das Kind zu retten.
    Ja, den gleichen Mut, die gleiche Liebe zum Streß und zum wohlbegründeten Risiko sah sie in den groben Männern, die sie so gern küßte und streichelte und leckte, in den Männern, die sie gern auf sich spürte, den Männern, die es nicht nötig hatten, daß sie redete.
    Aber was nutzte das Verstehen, wenn es Monate – fast ein halbes Jahr – her war, daß sie irgend jemanden eingeladen hatte, in ihr Bett zu kommen? Was dachte Sweet Christine darüber? fragte sie sich manchmal. Flüsterte sie ihr manchmal im Dunkeln zu: »Rowan, wo sind deine Männer?«
    Chase, der flachshaarige, olivenhäutige Cop aus Marin, hinterließ immer noch Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter. Aber sie hatte keine Zeit, ihn anzurufen. Dabei war er ein so netter Kerl, und Bücher las er auch, und einmal hatten sie sogar miteinander gesprochen, ein richtiges Gespräch war es gewesen, als sie eine beiläufige Bemerkung über die Notaufnahme und über die Frau, die von ihrem Mann niedergeschossen worden war, gemacht hatte: Da hatte er sofort eingehakt und von einer ganzen Serie von Schießereien und Messerstechereien erzählt, und im Handumdrehen waren sie dabeigewesen, das alles von zwei Seiten zu erörtern. Vielleicht hatte sie ihn deswegen nicht zurückgerufen? Möglich.
    Aber oberflächlich betrachtet, hatte die Neurochirurgin die Frau in ihr vollständig überlagert – so sehr, daß sie gar nicht genau wußte, weshalb sie heute abend eigentlich an diese Männer dachte. Es sei denn, es hätte daran gelegen, daß sie doch noch nicht so müde war oder weil der letzte schöne Mann, nach dem es sie gelüstet hatte, Michael Curry gewesen war, dieser prachtvolle Ertrunkene, prachtvoll noch, als er da auf den Decksplanken ihres Bootes gelegen hatte, naß und bleich, das schwarze Haar an den Kopf geklatscht.
    Ja. Er war, um es in der alten Teenie-Sprache zu sagen, »einfach traumhaft« – ein durch und durch anbetungswürdiger Kerl, und dazu ein anbetungswürdiger Kerl ganz nach ihrem Geschmack. Er hatte keine von diesen kalifornischen Fitneß-Center-Figuren mit überentwickelten Muskeln und unechter Sonnenbräune, gekrönt von gefärbtem Haar. Er war ein kraftvolles Proletarier-Exemplar, mit unwiderstehlichen blauen Augen und Sommersprossen auf den Wangen, die rückblickend den Wunsch in ihr weckten, sie zu küssen.
    Welch eine Ironie: Ein so perfektes Beispiel der einzigen Art Mann, nach der es sie je verlangt hatte, im Zustand tragischer Hilflosigkeit aus dem Meer zu fischen.
    Sie hatte den Eingang zur Intensivstation erreicht. Leise trat sie ein und blieb für einen Moment stehen, um diese seltsame, eisigstille Welt aus verglasten Räumen zu betrachten, in denen ausgemergelte Schläfer unter Sauerstoffzelten aus Plastik wie Fische in Aquarien zur Schau gestellt waren, die zerbrechlichen Glieder und Leiber inmitten von endlosen Kabeln und Schaltknöpfen an piepsende Monitore geklinkt.
    In Rowans Kopf wurde plötzlich ein Schalter umgelegt. Außerhalb dieser Station existierte nichts mehr, wie auch außerhalb des OP nichts existierte.
    Sie ging zum Aufsichtstisch, streckte die Hand aus und berührte ganz leicht die Schulter der Krankenschwester, die über einen Berg von Papier gebeugt unter den tiefhängenden Leuchtstoffröhren saß.
    »Guten Abend, Laurel«, flüsterte Rowan.
    Die Frau erschrak. Dann erkannte sie Rowan, und ihre Miene hellte sich auf. »Dr. Mayfair, Sie sind noch hier.«
    »Will mich nur noch mal umsehen.«
    Mit den Krankenschwestern ging Rowan sehr viel sanfter um als mit den Ärzten. Vom Beginn ihrer Assistenzzeit an hatte sie die Schwestern umworben und ihr Möglichstes getan, um ihre sprichwörtliche Abneigung gegen weibliche Ärzte zu mildern und ihnen so viel Enthusiasmus zu entlocken, wie sie nur konnte. Es war eine Wissenschaft für sich, kalkuliert und bis zur Skrupellosigkeit raffiniert, aber doch ebenso grundaufrichtig wie jeder Schnitt ins Gewebe eines Patienten.
    Als sie jetzt den ersten Raum betrat und vor dem hohen, glänzenden

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