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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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drei Menschen das Leben gerettet, die andere Ärzte vielleicht aufgegeben hätten. Anderen Leben in anderen Händen hast du geschickte Hilfe geleistet. Und jetzt schlummern auf der Intensivstation, sicher wie im Mutterschoß, drei dieser Patienten, und sie haben Augen, die sehen, und Münder, die Worte formen können, und wenn du ihre Hände nimmst, dann halten sie dich fest, wie du sie festhältst.
    »Was Sie wollen, ist ein Wunder!« hatte der diensthabende Arzt in der Notaufnahme am Abend um sechs verächtlich und mit vor Erschöpfung glasigen Augen zu ihr gesagt. »Rollen Sie diese Frau rüber zur Wand und sparen Sie sich Ihre Energie für jemanden, für den Sie etwas tun können!«
    »Ich will überhaupt nichts außer Wundern«, hatte Rowan geantwortet. »Wir werden das Glas und den Dreck aus ihrem Gehirn entfernen, und dann sehen wir weiter.«
    Unmöglich, ihm zu erzählen, daß sie, als sie die Hände auf die Schultern der Frau gelegt hatte, mit ihrem diagnostischen sechsten Sinn den tausend kleinen Signalen »gelauscht« hatte und daß diese ihr unfehlbar verraten hatten, daß die Frau würde weiterleben können. Sie wußte, was sie sehen würde, wenn die Knochensplitter behutsam aus der Fraktur entfernt und zur späteren Wiedereinsetzung eingefroren worden wären, wenn die zerfetzte Dura mater weiter aufgeschnitten und das mißhandelte Gewebe darunter von dem starken OP-Mikroskop vergrößert würde: eine Menge lebendes Gehirn, unbeschädigt und funktionsfähig, sobald sie das Blut abgesaugt und die winzigen gerissenen Gefäße kauterisiert hätten, um die Blutung zu stoppen.
    Es war das gleiche unfehlbare Gefühl, das sie an jenem Tag draußen auf dem Meer gehabt hatte, als sie den Ertrunkenen, diesen Michael Curry, mit der Winde an Deck gehievt und seine kalte graue Haut berührt hatte. Ja, da ist noch Leben. Bring ihn zurück.
    Der Ertrunkene. Michael Curry. Natürlich, das war es, was sie sich vorgenommen hatte. Currys Arzt anrufen. Currys Arzt hatte eine Nachricht für sie hinterlassen, in der Klinik und auf dem Anrufbeantworter zu Hause.
    Mehr als drei Monate waren vergangen seit jenem bitterkalten Abend im Mai, als der Nebel wie eine Decke über der fernen Stadt gelegen hatte, so daß kein einziges Licht zu sehen gewesen war; der Ertrunkene auf den Decksplanken der Sweet Christine hatte so tot ausgesehen wie nur irgendein Leichnam, der ihr je unter die Augen gekommen war.
    Sie drückte die Zigarette aus. »Gute Nacht, Kollegen«, sagte sie und stand auf. »Montag, acht Uhr« – zu den Assistenzärzten gewandt. »Nein, bleiben Sie sitzen.«
    Dr. Larkin faßte sie mit zwei Fingern beim Ärmel. Als sie den Arm wegziehen wollte, hielt er sie fest.
    »Fahren Sie nicht allein mit dem Boot hinaus, Rowan.«
    »Na, hören Sie, Chef.« Sie versuchte sich loszureißen, doch ohne Erfolg. »Ich fahre allein mit dem Boot hinaus, seit ich sechzehn bin.«
    »Schlecht, Rowan, ganz schlecht«, meinte er. »Angenommen, Sie stoßen sich da draußen den Kopf und fallen über Bord.«
    Sie lachte leise und höflich, aber in Wahrheit ärgerte sie sein Gerede. Dann war sie zur Tür hinaus, am Aufzug vorbei – zu langsam – und unterwegs zu der Betontreppe.
    Vielleicht sollte sie noch einen letzten Blick auf die drei Patienten in der Intensivstation werfen, bevor sie ging; und plötzlich hatte der Gedanke, überhaupt zu gehen, etwas Bedrückendes. Und die Vorstellung, daß sie erst Montag wieder herkommen würde, war noch schlimmer.
    Sie schob die Hände in die Taschen und hastete die zwei Treppen hinauf in den vierten Stock.
    In den schimmernden Korridoren dort oben war es so still. Nichts war zu spüren von dem Trubel, der in der Notaufnahme unvermeidlich war. Eine einsame Frau schlummerte auf dem Sofa in dem mit dunklen Teppichen ausgelegten Warteraum. Die alte Schwester im Dienstzimmer der Station winkte nur, als Rowan vorüberging. Es hatte Zeiten gegeben, in denen sie als geplagte Assistenzärztin während des Dienstes nachts lieber auf diesen Korridoren auf und ab gegangen war, statt zu versuchen, ein wenig Schlaf zu finden. Hin und her war sie gewandert, durch einen Korridor nach dem anderen, von vorn bis hinten, eingelullt vom sanften Wispern zahlloser Apparate.
    Bedauerlich, daß der Chef von der Sweet Christine wußte, dachte sie jetzt; bedauerlich, daß sie ihn am Nachmittag nach dem Begräbnis ihrer Adoptivmutter verzweifelt und verängstigt mit nach Hause genommen und mit ihm auf der Sonnenveranda gesessen

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