Hexenstunde
der Tür läuten, nur um sich wieder sagen zu lassen, Miss Carl sei nicht da, oder sie könne ihn im Augenblick gerade nicht empfangen.
Eine ganze Weile blieb er am Zaun stehen und lauschte dem Schaben des Glasermessers, das seltsam klar durch die sachte tropische Stille klang. Er fühlte, wie die Hitze seine Schuhe und seine Kleider durchdrang. Er ließ die sanften, milden Farben dieser feuchten, schattigen Welt auf sich einwirken.
Es war ein vortrefflicher Ort, das hier. Gewiß besser für sie als irgendein steriles Krankenzimmer oder die Aussicht auf einen kurzgeschorenen Rasen, der so abwechslungsreich war wie ein synthetischer Teppich. Und wie kam er auf die Idee, daß er jemals etwas für sie hätte tun können, was so viele Ärzte nicht vermocht hatten? Vielleicht hatte sie nie eine Chance gehabt. Das wußte nur Gott.
Plötzlich gewahrte er einen Besucher hinter dem rostigen Fliegengitter; er saß neben der armen Wahnsinnigen. Ein netter junger Mann, wie es schien – groß, dunkelhaarig, gutgekleidet trotz der Bruthitze. Vielleicht einer der Verwandten aus der Ferne, aus New York oder aus Kalifornien.
Der junge Bursche mußte eben aus dem Wohnzimmer auf die Veranda herausgekommen sein, denn einen Augenblick zuvor war er noch nicht da gewesen.
Wie für sorglich er wirkte. Regelrecht liebevoll neigte er sich zu Deirdre hinüber. Gerade so, als wolle er ihr die Wange küssen. Ja, das tat er auch. Trotz des tiefen Schattens konnte der Priester es sehen, und es berührte ihn tief.
Der Glaser war jetzt mit seiner Arbeit fertig. Er klappte seine Leiter zusammen, kam die Vordertreppe herunter und ging über den Plattenweg an der vergitterten Veranda vorbei; dabei bog er mit seiner Leiter die Bananenstauden und die schwellenden Oleanderzweige beiseite.
Der Priester war ebenfalls fertig. Er hatte seine Buße getan. Jetzt konnte er nach Hause gehen, zurück auf das heiße tote Pflaster der Constance Street und in die kühle Behausung der Pfarrei. Langsam wandte er sich ab und ging auf die Straßenecke zu.
Nur noch einmal schaute er sich um. Die Veranda war wieder leer; Deirdre war allein. Sicher würde der nette junge Mann bald wieder herauskommen. Es hatte den Priester bis ins Herz gerührt, diesen zarten Kuß zu sehen, zu wissen, daß selbst jetzt noch jemand sie liebte, diese verlorene Seele, die er selbst vor so langer Zeit nicht hatte retten können.
4
Irgend etwas hatte sie heute abend noch zu tun, irgend jemand war anzurufen. Und es war wichtig. Aber nach fünfzehn Stunden Dienst – zwölf davon im Operationssaal – konnte sie sich nicht mehr erinnern.
Sie war noch nicht wieder Rowan Mayfair mit all ihrem persönlichen Schmerz und ihren Sorgen. Sie war einfach Dr. Mayfair, leer wie eine klare Glasscheibe, wie sie hier schweigend im Kaffeezimmer der Ärzte saß, die Hände in den Taschen ihres schmutzigen weißen Kittels, die Füße auf dem Stuhl gegenüber, eine Zigarette zwischen den Lippen, und ihnen zuhörte, wie sie redeten, was Neurochirurgen immer reden, wenn sie jeden aufregenden Augenblick des Tages in Worten wiederkäuen.
Leise aufplätscherndes Lachen, Stimmen, die andere Stimmen überlappten, Alkoholgeruch, das Rascheln gestärkter Kleider, der angenehme Duft von Zigarettenrauch. Es war zwar eine Schande, daß sie fast alle rauchten, aber das machte nichts. Es war schön, noch hier zu bleiben, behaglich im grellen Schein der Lampen zu sitzen, der sich über den schmutzigen Kunststofftisch und den schmutzigen Linoleumfußboden und den schmutzigen beigefarbenen Wänden ergoß. Schön, die Zeit des Grübelns noch ein wenig aufzuschieben, die Zeit, wo die Erinnerung zurück kommen, sie in Besitz nehmen und schwer und trüb machen würde.
Tatsächlich war der Tag verdammt nah an der Vollkommenheit gewesen, und deshalb taten ihr die Füße so weh. Sie hatte drei Notoperationen hinter sich, eine nach der anderen, von der Schußverletzung um sechs Uhr früh bis zu dem Unfallopfer, das vor vier Stunden hereingebracht worden war. Und wenn jeder Tag wie dieser würde, dann wäre das Leben okay. Ja, es würde sogar wunderbar sein.
Dessen war sie sich im Augenblick auf eine entspannte Art und Weise bewußt. Nach zehn Jahren als Medizinstudentin, Praktikantin und Assistenzärztin war sie jetzt, was sie immer hatte sein wollen – Ärztin, Neurochirurgin und vor allem Mitglied des neurochirurgischen OP-Personals einer riesigen Universitätsklinik, in deren Neurologischem Trauma-Zentrum sie
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