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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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er erzählte sogar von den Bildern in den Büchern, die den »dunklen Mann« und die tanzenden Hexen gezeigt hatten.
    Und der Engländer wirkte so interessiert, bewegte sich nur hin und wieder, um Wein nachzuschenken oder dem Priester eine Zigarette anzubieten, und unterbrach ihn nicht.
    »Was halten Sie davon?« flüsterte der Priester schließlich. »Wissen Sie, der alte Dave Collins ist tot, aber Schwester Bridget Marie wird wohl ewig leben. Sie ist jetzt fast hundert.«
    Der Engländer lächelte. »Sie meinen die Nonne auf dem Schulhof an jenem längst vergangenen Tag?«
    Aber der Priester war wieder abwesend; er dachte an Deirdre und an den Beichtstuhl. Und der Engländer berührte seinen Handrücken und flüsterte: »Sie müssen sich deshalb keine Sorgen machen.«
    Der Priester schrak auf. Dann lachte er fast über seine Angst, jemand könne seine Gedanken lesen. Das hatte Schwester Bridget Marie ja auch über Antha erzählt, nicht wahr? Daß sie Menschen durch Mauern habe verstehen und ihre Gedanken habe lesen können. Hatte er dem Engländer das auch erzählt?
    »Ja, haben Sie. Ich möchte Ihnen danken…«
    Er und der Engländer hatten sich um sechs vor dem Tor des Lafayette-Friedhofs verabschiedet. Es war die goldene Zeit des Abends gewesen, wenn die Sonne schon untergegangen ist und alle Dinge das Licht abgeben, das sie im Laufe des Tages aufgenommen haben. Aber wie verloren alles ausgesehen hatte, die weißgekalkten Mauern und die riesigen Magnolien, die das Pflaster aufbrachen.
    »Wissen Sie, sie liegen alle dort drinnen begraben«, hatte Pater Mattingly mit einem Blick auf das Eisentor gesagt. »Eine große oberirdische Gruft, rechts am Hauptweg, mit einem kleinen, schmiedeeisernen Zaun ringsherum. Miss Carl hält sie gut in Schuß. Sie können da all die Namen lesen, von denen Sie mir eben erzählt haben.«
    Er hätte es dem Engländer selbst gezeigt, aber es war Zeit gewesen, zum Pfarrhaus zurück zukehren, Zeit, nach Baton Rouge zurückzufahren und dann hinauf nach St. Louis.
    Lightner gab ihm eine Adresse in London.
    »Sollten Sie je mehr über diese Familie hören – irgend etwas, das Sie ohne Bedenken weitergeben zu können glauben -, nun, würden Sie dann Kontakt mit mir aufnehmen?«
    Natürlich hatte Pater Mattingly das nie getan. Er hatte den Namen und die Adresse schon vor Monaten verlegt. Aber den Engländer hatte er in freundlicher Erinnerung, wenngleich er sich manchmal fragte, wer der Mann in Wirklichkeit war und was er eigentlich gewollt hatte. Wenn alle Priester der Welt so beruhigend wie er hätten wirken können, wie prächtig wäre das gewesen. Es war ihm so vorgekommen, als habe der Mann einfach alles verstanden.
     
    Als er sich nun der alten Ecke näherte, dachte Pater Mattingly wieder an das, was der junge Priester geschrieben hatte: daß Deirdre Mayfair immer mehr in sich zusammenfalle und daß sie kaum noch gehen könne.
    Wie hatte sie dann am 13. August so wild werden können? Das hätte er um des Himmels willen gern gewußt. Wie hatte sie die Fensterscheiben zerschlagen und die Männer von der Irrenanstalt verjagen können?
    Dem Priester fiel es schwer, das zu glauben.
    Aber da war der Beweis.
    Als er sich in der Wärme des Augustnachmittags langsam dem Tor näherte, sah er den weiß uniformierten Glaser auf der vorderen Veranda auf einer Holzleiter stehen. Er hatte ein Messer in der Hand und strich den Kitt an den neuen Scheiben entlang. Und jedes dieser hohen Fenster hatte eine neue Glasscheibe; die kleinen Aufkleber der Herstellerfirma waren noch zu sehen.
    Etliche Schritte weiter an der Südseite des Hauses, im Schutz eines kupferrot verrosteten Drahtgitters, saß Deirdre, die Hände in den Gelenken auswärts verdreht, den Kopf zur Seite und an die Lehne des Schaukelstuhls gelegt. Der Smaragdanhänger funkelte für einen Augenblick ganz grün im Licht. Ah, wie war es wohl für sie gewesen, diese Scheiben zu zerschlagen? Die Kraft durch ihre Glieder strömen zu fühlen, sich im Besitz einer so ungewöhnlichen Macht zu wissen? Ja, sogar ein Geräusch zu machen – ja, das mußte herrlich gewesen sein.
    Aber das waren seltsame Gedanken für ihn, oder? Dennoch fühlte er sich von einer unbestimmten Trauer erfaßt, einer tiefen Melancholie. Ach, Deirdre, arme kleine Deirdre.
    Die Wahrheit war, daß ihm so traurig und verbittert wie jedesmal zumute war, wenn er sie sah. Und er wußte, daß er nicht den Steinplattenweg zu den Verandastufen hinaufgehen würde. Er würde nicht an

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