Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
war unter einem schweren, bleigrauen Himmel durch die rauhe See gekrochen, und der Wind hatte gegen die Fenster des Ruderhauses geschlagen. Wetterwarnungen für Kleinboote galten nicht für diesen doppelmotorigen, zweiundvierzig Fuß langen, in Holland gebauten Stahlkreuzer, dessen wasserverdrängender Rumpf sich glatt, wenn auch langsam, ohne viel Auf und Ab durch die kabbeligen Wellen schob. Strenggenommen war sie zu groß für Einhandfahrten. Aber Rowan war allein mit ihr gefahren, seit sie sechzehn war.
    An diesem Mainachmittag hatte der bedeckte Himmel den Tag schon verdunkelt, als Rowan noch unter der Golden Gate Bridge hindurchfuhr. Als die Brücke außer Sicht war, war die lange Dämmerung vollends in Finsternis übergegangen.
    Die Dunkelheit war von reiner, metallischer Monotonie; das Meer verschmolz mit dem Himmel. Und es war so kalt, daß Rowan selbst im Ruderhaus ihre Wollhandschuhe und die Mütze trug und Tasse um Tasse dampfenden Kaffee trank, der indessen ihre tiefe Erschöpfung nicht vertrieb. Ihr Blick war wie immer auf die wogende See gerichtet.
    Dann kam Michael Curry, dieser Punkt da draußen – konnte denn das ein Mensch sein?
    Mit dem Gesicht nach unten trieb er in den Wellen, die Arme hingen leblos zur Seite, die Hände neben dem Kopf, die schwarzen Haare abgehoben vom blinkenden grauen Wasser, der Rest nur Kleider, die sich ganz leicht über der schlaffen, formlosen Gestalt blähten. Ein Trenchcoat, braune Schuhe. Sah tot aus.
    Alles, was sie in diesen ersten paar Augenblicken sagen konnte, war, daß dies keine verweste Leiche war. Die Hände waren zwar blaß, aber nicht vom Wasser aufgedunsen. Er konnte erst vor wenigen Augenblicken von einem großen Schiff über Bord gefallen sein, aber auch vor ein paar Stunden. Entscheidend war, daß sie sofort einen Notruf absetzte und ihre Koordinaten durchgab; und dann mußte sie versuchen, ihn an Bord zu ziehen.
    Wie das Schicksal es wollte, waren die Boote der Küstenwache meilenweit von ihrem Standort entfernt, und die Rettungshubschrauber waren alle irgendwo im Einsatz. Wegen der Schlechtwetterwarnung war buchstäblich kein einziges kleines Boot in der Gegend. Und der Nebel kam immer näher. Hilfe würde so bald wie möglich kommen, aber niemand konnte sagen, wann das sein würde.
    »Ich versuche ihn aus dem Wasser zu ziehen«, sagte sie in ihr Funkgerät. »Aber ich bin allein hier draußen. Also kommen Sie, so schnell Sie können.«
    Und das war das Schwierige an der Sache, denn so etwas hatte sie noch nie getan. Auf jeden Fall nicht allein. Aber sie hatte die nötige Ausrüstung, ein Geschirr, das mit einer starken Nylonleine mit der Winde auf dem Dach des Ruderhauses verbunden war – mit anderen Worten, sie hatte die notwendigen Mittel, ihn an Bord zu holen, wenn sie in seine Nähe kommen könnte. Und eben das würde vielleicht nicht gelingen.
    Unverzüglich zog sie Gummihandschuhe und Schwimmweste an, schnallte sich das eigene Geschirr um und raffte das zweite für ihn an sich. Sie überprüfte die Leinenführung des Schlauchbootes, wie auch die Vertäuung, und dann warf sie das Boot über die Reling der Sweet Christine und kletterte auf der Schwimmleiter zu ihm hinunter, ohne auf die wogende See und das Schwanken der Leiter und die kalte Gischt in ihrem Gesicht zu achten.
    Er trieb auf sie zu, und sie paddelte ihm entgegen; aber fast wäre das Schlauchboot vollgeschlagen. Eine Sekunde lang durchzuckte sie der Gedanke: Dies ist unmöglich. Aber sie gab nicht auf. Endlich – beinahe wäre sie aus dem kleinen Boot gefallen – langte sie nach seiner Hand und bekam sie zu fassen, und sie zog seinen Körper mit dem Kopf voran zu sich her. Aber wie sollte sie ihm jetzt das verdammte Geschirr ordentlich um den Oberkörper schnallen…
    Wieder hätten die Wellen fast das Schlauchboot vollaufen lassen, und beinahe hätte sie es selbst zum Kentern gebracht. Dann hob eine Welle sie hoch und trug sie über den Mann hinweg. Seine Hand rutschte ihr weg. Sie verlor ihn. Aber wie ein Korken kam er wieder an die Oberfläche gehüpft. Jetzt bekam sie seinen linken Arm zu packen; sie zerrte ihm das Geschirr über Kopf und Schulter und zog den linken Arm hindurch. Aber es war unbedingt nötig, auch den rechten Arm hineinzubekommen. Die Gurte mußten richtig sitzen, wenn sie ihn, schwer wie er war, mit seinen nassen Kleidern, an Bord hieven wollte.
    Und die ganze Zeit arbeitete ihr diagnostischer Sinn, während ihr Blick auf das halb untergetauchte Gesicht

Weitere Kostenlose Bücher