Hexenstunde
fühlte, wie der Atem aus ihm hervorströmte, heiß an ihr Gesicht schlug.
»So ist’s richtig – atmen!« schrie sie gegen den Wind. Warum war sie so erstaunt, daß er lebte, daß er sie anstarrte, wo sie doch ebenfalls nicht daran gedacht hatte, aufzugeben?
Seine rechte Hand schoß herauf und ergriff die ihre. Und er sagte etwas, murmelnd, unzusammenhängend, etwas, das gleichwohl wie ein Name klang.
Wieder schlug sie ihm auf die Wange, aber sanfter. Sein Atem ging stoßweise, aber schnell, und sein Gesicht war vor Schmerzen knotig verzerrt. Wie blau seine Augen waren, wie offensichtlich und unzweifelhaft lebendig. Es war, als hätte sie noch nie zuvor Augen an einem menschlichen Wesen gesehen…
»Weitermachen, atmen, hören Sie? Ich gehe nach unten und hole Decken.«
Wieder packte er ihre Hand, und er begann heftig zu zittern. Als sie versuchte, sich zu befreien, sah sie, daß er an ihr vorbei zum Himmel starrte. Er hob die linke Hand; er streckte den Zeigefinger aus. Endlich strich ein Lichtstrahl über das Deck. Und, Gott, der Nebel wogte über ihnen, dicht wie Rauch. Der Hubschrauber war gerade noch rechtzeitig gekommen, und der Wind brannte ihr in den Augen. Kaum konnte sie die Rotorblätter erkennen, die dort oben kreisten, ließ sie sich zurückfallen, hätte beinahe selbst das Bewußtsein verloren, merkte aber, daß seine Hand die ihre umklammerte. Er versuchte ihr etwas zu sagen. Sie tätschelte seine Hand und sagte: »Okay, es ist alles in Ordnung, die holen Sie ab.«
Sie hatte Angst um ihn, als sie ihn hochzogen. Aber in Wahrheit wußte sie, was die Ärzte sagen würden: Keine neurologischen Störungen.
Um Mitternacht hatte sie es aufgegeben, schlafen zu wollen. Aber ihr war wieder warm und behaglich. Die Sweet Christine schaukelte wie eine große Wiege auf dem Meer, ihre Lichter durchbohrten den Nebel, das Radar war eingeschaltet, und der Autopilot hielt sie auf dem immer gleichen weitläufigen Kreiskurs. Rowan kuschelte sich, frisch umgezogen, in die Ecke der Ruderhauskoje und trank ihren dampfenden Kaffee.
Verwundert dachte sie an ihn, an den Ausdruck in seinen Augen. Michael Curry war sein Name; zumindest hatte das die Küstenwache gesagt, als sie dort angerufen hatte. Er hatte mindestens eine Stunde im Wasser gelegen, ehe sie ihn entdeckt hatte. Aber der Befund war das, was sie erwartet hatte. »Keinerlei neurologische Probleme.« Die Presse sprach von einem Wunder.
Leider war er im Krankenwagen desorientiert gewesen und gewalttätig geworden – vielleicht wegen all der Reporter am Kai -, und sie hatten ihn ruhiggestellt (Dummköpfe!), was ihn für ein Weilchen benommen gemacht hatte (selbstverständlich!), aber jetzt ging es ihm »prima«.
»Geben Sie niemandem meinen Namen«, hatte sie gesagt. »Ich wünsche, daß meine Privatsphäre geschützt wird.«
Verstanden. Die Reporter waren eine echte Plage. Und um die Wahrheit zu sagen – nun, ihr Hilferuf war zur ungünstigsten Zeit eingegangen und nicht mal ordentlich registriert worden. Sie hatten weder ihren Namen noch den Namen des Bootes. Ob sie vielleicht die Freundlichkeit haben könnte, ihnen diese Informationen jetzt durchzugeben, falls…
»Over und out, und vielen Dank«, sagte sie und unterbrach die Verbindung.
Die Sweet Christine trieb dahin. Sie sah Michael Curry vor sich, wie er an Deck lag, wie seine Stirn sich kräuselte, als er aufwachte, wie das Licht aus dem Ruderhaus in seinen Augen funkelte. Was für ein Wort hatte er noch gleich gesagt… wie ein Name hatte es geklungen… Aber sie konnte sich nicht daran erinnern, wenn sie es überhaupt je deutlich gehört hatte.
Und eine solche Schönheit war er gewesen. Stets ein Geheimnis, die Mischung von Eigentümlichkeiten, die einen Mann schön sein ließ. Sein Gesicht war zweifellos irisch – kantig, mit einer kurzen, ziemlich runden Nase, was unter Umständen oft reizlos wirkt. Aber ihn hätte niemand reizlos gefunden. Nicht mit diesen Augen und mit diesem Mund. Ausgeschlossen.
Es war doch nicht unschicklich, in diesen Kategorien an ihn zu denken, oder? Sie war nicht die Ärztin, wenn sie auf die Jagd ging; sie war Rowan auf der Suche nach dem anonymen Partner, die nachher schlief, wenn die Tür sich geschlossen hatte. Es war Rowan, die Ärztin, die sich um ihn sorgte.
Am nächsten Morgen, als das Boot wieder an seinem Liegeplatz war, rief sie gleich im San Francisco General Hospital an. Dr. Morris, der Oberarzt, war noch im Dienst.
»Es geht ihm gut. Er hat
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