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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Metallbett stehenblieb – einem monströsen Gestell auf Rädern -, hörte sie, daß die Schwester ihr nachkam, wie eine Zofe sozusagen; sie wollte das Krankenblatt von seinem Platz am Fußende des Bettes nehmen, doch Rowan schüttelte ablehnend den Kopf.
    Bleich, scheinbar leblos, lag das letzte Unfallopfer des Tages im Bett; ein enormer Turban aus weißen Verbänden umgab den Kopf, und ein dünner, farbloser Schlauch verschwand in der Nase. Allein die Apparate zeigten so etwas wie Leben an, mit ihrem dünnen, monotonen Piepsen und den gezackten Neonlinien. Glukose floß durch eine winzige Nadel, die im festgezurrten Handgelenk steckte.
    Wie ein Leichnam, der auf dem Einbalsamierungstisch zum Leben erwachte, schlug die Frau unter den gebleichten Bettlaken langsam die Augen auf. »Dr. Mayfair«, wisperte sie.
    Ein angenehmes Kribbeln der Erleichterung durchzog Rowan. Wieder wechselten sie und die Schwester einen Blick. Rowan lächelte. »Ich bin hier, Mrs. Trent«, sagte sie leise. »Es geht Ihnen gut.« Sanft umschlossen ihre Finger die rechte Hand der Frau. Ja, sehr gut.
    Die Augen der Frau schlössen sich so langsam wie eine Blüte. In dem leisen Gesumme der Maschinen ringsum hatte sich nichts geändert. Rowan zog sich so lautlos zurück, wie sie gekommen war.
    Durch das Fenster des zweiten Zimmers betrachtete sie eine zweite anscheinend bewußtlose Gestalt, einen olivenhäutigen Jungen, einen halmdürren Bengel genau gesagt, der plötzlich erblindet und vom Bahnsteig hinunter auf das Gleis eines Vorortzuges getaumelt war.
    Vier Stunden lang hatte sie an ihm gearbeitet, das geplatzte Gefäß, das die Blindheit verursacht hatte, mit winziger Nadel vernäht und den beschädigten Schädel wieder zusammengefügt. Im Aufwachzimmer hatte er mit den Ärzten, die ihn umstanden hatten, gescherzt.
    »Er macht sich prima, Doktor«, flüsterte die Schwester neben ihr.
    Rowan nickte. Aber sie wußte, daß er in einigen Wochen Anfälle bekommen würde. Man würde sie mit Dilantin unter Kontrolle bringen, aber er würde für den Rest seines Lebens Epileptiker bleiben. Sicher besser als der Tod oder Blindheit. Sie würde abwarten und ihn beobachten, bevor sie irgend etwas vorhersagte oder erklärte. Schließlich bestand immer noch die Chance, daß sie sich irrte.
    »Ich habe jetzt frei bis Montag, Laurel«, sagte Rowan. »Ich weiß nicht, ob mir dieser neue Dienstplan gefällt.«
    Die Schwester lachte leise. »Sie haben die Ruhe verdient, Dr. Mayfair.«
    »Ja?« murmelte Rowan. »Dr. Simmons wird mich anrufen, wenn es ein Problem gibt. Sie können ihn jederzeit bitten, mich anzurufen, Laurel. Ist das klar?«
    Sie ging durch die Doppeltür hinaus und ließ sie leise schwingend hinter sich zufallen. Jawohl, es war ein guter Tag gewesen.
    Und es gab eigentlich keinen Vorwand, noch länger hier zu bleiben – außer, um ein paar Notizen in das private Tagebuch zu schreiben, das sie im Büro aufbewahrte, und um rasch ihren Anrufbeantworter abzuhören. Vielleicht würde sie sich ein Weilchen auf dem Ledersofa ausruhen. Es war so viel luxuriöser, das neue Büro der aufsichtführenden Ärztin, als die engen und schäbigen Bereitschaftszimmer, in denen sie jahrelang hatte dösen müssen.
    Aber sie sollte jetzt nach Hause fahren; das wußte sie. Sie sollte Grahams und Ellies Schatten kommen und gehen lassen, wie es ihnen beliebte.
    Und Michael Curry? Ja, jetzt hatte sie Michael Curry schon wieder vergessen, und nun war es kurz vor zehn. Sie mußte Dr. Morris anrufen, sobald es ging.
    Jetzt bekomme mal kein Herzklopfen wegen Curry, dachte sie, während sie gemächlich und leise den linoleumbelegten Gang hinunterging und wiederum die Betontreppe dem Aufzug vorzog und im Zickzackkurs durch das gigantische schlummernde Krankenhaus zu ihrer Bürotür fand.
    Aber sie brannte darauf, zu hören, was Morris zu sagen hatte, brannte auf Nachrichten über den derzeit einzigen Mann in ihrem Leben, einen Mann, den sie nicht kannte und den sie nicht mehr gesehen hatte seit jenem wilden Zwischenspiel aus verzweifelter Anstrengung und wahnsinnigem Glück auf dem turbulenten Meer, beinahe vier Monate zuvor…
     
    Sie war an jenem Abend vor Erschöpfung fast benommen gewesen. Eine Routineschicht in ihrem letzten Monat als Assistenzärztin hatte sechsunddreißig Stunden Bereitschaftsdienst umfaßt, und in dieser Zeit hatte sie vielleicht eine Stunde geschlafen. Aber das machte nichts – bis sie den Ertrunkenen im Wasser entdeckt hatte.
    Die Sweet Christine

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