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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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gerichtet war und sie die kalte Haut seiner ausgestreckten Hand spürte. Ja, er ist da drin, er kann zurück kommen. Hol ihn an Bord.
    Eine wütende Woge nach der anderen verhinderte, daß sie weitermachte, und sie hielt ihn nur fest. Dann endlich konnte sie seinen rechten Ärmel packen und den rechten Arm durch die Gurte ziehen, und sogleich zog sie das Geschirr stramm.
    Da schlug das Boot um und schleuderte sie neben ihn ins Meer. Sie schluckte Wasser und schoß an die Oberfläche. Es verschlug ihr den Atem, als die Eiseskälte durch ihre Kleider drang. Wie viele Minuten hatte sie Zeit bei dieser Temperatur, bevor sie das Bewußtsein verlor? Aber sie hatte ihn jetzt ebenso fest und sicher ans Boot geklinkt wie sich selbst; wenn sie, ohne ohnmächtig zu werden, die Jakobsleiter erreichen könnte, dann könnte sie ihn mit der Winde hochhieven. Sie ließ seine Leine fahren und schwamm in schnellen Kraulzügen los; sie weigerte sich zu glauben, daß sie scheitern könnte. Weiß und verschwommen ragte die breite Steuerbordseite der Sweet Christine auf, verschwand, erschien wieder, und die Wellen spülten über sie hinweg.
    Endlich prallte sie gegen die Bordwand. Der Schock machte sie hellwach und geistesgegenwärtig. Ihre behandschuhten Finger wollten sich nicht krümmen, als sie die Hand nach der untersten Sprosse der Leiter ausstreckte. Aber sie gab ihnen den Befehl: Krümmt euch, verdammt, packt die Sprosse. Und sie beobachtete, wie das, was sie als rechte Hand nicht mehr spürte, gehorchte. Ihre linke Hand hob sich zur Seite der Leiter, und wieder erteilte sie ihrem gefühllosen Körper einen Befehl, und beinahe ungläubig merkte sie, wie sie hinaufkletterte, Sprosse für Sprosse.
    Einen Moment lang blieb sie auf Deck liegen und konnte sich nicht rühren. Die warme Luft, die aus der offenen Tür des Ruderhauses strömte, dampfte wie heißer Atem. Sie begann ihre Finger zu massieren, bis das Gefühl zurück kehrte. Aber sie hatte keine Zeit, sich zu wärmen, keine Zeit, irgend etwas anderes zu tun als aufzuspringen und zur Winde zu eilen.
    Ihre Hände taten jetzt weh. Aber sie gehorchten ihr automatisch, als sie jetzt den Motor anließ. Ächzend und singend holte die Winde die Nylonleine ein. Plötzlich sah sie, wie der Körper des Mannes über die Reling heraufgeschwebt kam, der Kopf war gesenkt, die Arme hingen ausgebreitet und kraftlos über die Nylonschlinge des Gurtgeschirrs, und Wasser strömte aus den schweren, farblosen Kleidern. Der Mann kippte vorwärts, kopfüber an Deck.
    Kreischend zerrte die Winde ihn näher zum Ruderhaus und riß ihn einen Schritt weit vor der Tür wieder hoch. Sie schaltete den Motor ab. Er sackte zusammen, durchnäßt, leblos, zu weit weg von der warmen Luft, als daß sie ihm genutzt hätte.
    Und sie wußte, sie konnte ihn nicht hereinziehen, und sie hatte jetzt keine Zeit mehr, mit Leinen oder der Winde herumzuhantieren. Mit großer Anstrengung rollte sie ihn herum und pumpte ihm einen guten Liter Seewasser aus der Lunge. Dann hob sie ihn hoch, drängte sich unter ihn und wälzte ihn wieder auf den Rücken. Sie zog die Handschuhe aus, weil sie ihr hinderlich waren, schob die linke Hand unter seinen Nacken, drückte ihm mit den Fingern der rechten die Nase zu und blies ihm in den Mund. Ihr Geist arbeitete mit ihm, stellte sich vor, wie die warme Luft in ihn hineingepumpt wurde. Aber es war, als beatme sie ihn ewig, ohne daß sich in der trägen Masse unter ihr etwas veränderte.
    Sie verlegte sich auf seine Brust, drückte so heftig sie konnte auf das Brustbein und ließ wieder los, wieder und wieder, fünfzehnmal. »Los, atme!« befahl sie, als sei es ein Fluch. »Verdammt, atme!« Und sie fuhr mit der Mund-zu-Mund-Beatmung fort.
    Unmöglich, zu sagen, wieviel Zeit vergangen war; sie hatte die Zeit vergessen, wie es ihr im OP immer passierte. Sie machte einfach immer weiter, wechselte zwischen Brustmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung ab und hielt nur dann und wann in-ne, um nach der reglosen Halsschlagader zu tasten und zu registrieren, daß die diagnostische Botschaft, die sie empfing, immer noch die gleiche war – lebendig -, ehe sie fortfuhr.
    »Du weißt, daß du mich hören kannst!« brüllte sie und drückte das Brustbein nieder. Sie sah Herz und Lunge in all ihren prachtvollen anatomischen Details vor sich. Und als sie gerade wieder unter seinen Nacken fassen wollte, klappten seine Augen auf, und Leben befeuerte jäh sein Gesicht. Seine Brust hob sich ihr entgegen, und sie

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