Hexenstunde
würde nicht wollen, daß Ihre Situation durch irgendeine vage telepathische Botschaft, die Sie in diesem Augenblick empfangen haben, weiter verwirrt würde, durch etwas, das vielleicht überhaupt nicht relevant ist. Wenn Sie mit mir sprechen müssen«, schloß sie, »rufen Sie mich in der Universitätsklinik oder zu Hause an.«
Das war zurück haltend genug, und sicher neutral genug. Sie hatte nur angedeutet, daß sie an seine Fähigkeit glaubte und daß sie da sein würde, wenn er sie brauchte. Nicht mehr als das, keine Forderung. Und sie würde dafür sorgen, daß sie dieses Verantwortungsbewußtsein behielt, was auch passieren mochte.
Dennoch ging ihr der Gedanke nicht aus dem Kopf – die Vorstellung, sie könnte ihre Hand in seine legen und sagen: »Ich werde an etwas denken, an etwas ganz Spezielles, das einmal – nein, dreimal in meinem Leben passiert ist; und ich möchte nur, daß Sie mir sagen, was Sie sehen. Würden Sie das tun? Ich kann nicht behaupten, daß Sie es mir schuldig sind, weil ich Ihnen das Leben gerettet habe…«
Richtig, das kannst du nicht. Also tu’s auch nicht!
Sie schickte den Brief direkt an Dr. Morris.
Dr. Morris rief sie am Tag darauf an. Curry war am vergangenen Nachmittag aus dem Krankenhaus hinausspaziert, unmittelbar nach einer Fernsehpressekonferenz.
»Er ist total verrückt, Dr. Mayfair, aber wir hatten keine rechtliche Handhabe, ihn hierzubehalten. Ich habe ihm übrigens erzählt, was Sie mir berichtet haben – daß er nichts gesagt habe. Aber er ist wie besessen und will die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Er ist dazu entschlossen, sich zu erinnern, was er da draußen gesehen hat, wissen Sie – den großen Grund für das alles, das Geheimnis des Universums, den Zweck, die Tür, die Nummer, das Juwel. Derartiges Zeug haben Sie noch nie gehört. Ich schicke ihm den Brief nach Hause, aber wahrscheinlich wird er ihn nicht erreichen. Seine Post kommt säckeweise.«
»Die Sache mit den Händen – ist da was dran?«
Schweigen. »Soll ich Ihnen die Wahrheit sagen? Es funktioniert auf den Punkt genau, soweit ich es jedenfalls mitbekommen habe. Wenn Sie es je selbst erleben, wird es Ihnen eine Heidenangst einjagen.«
Die Geschichte erschien in der folgenden Woche in den Klatschblättern im Supermarkt. Zwei Wochen später brachten People und Time sie in Variationen. Rowan schnitt Artikel und Photos aus. Offensichtlich verfolgten die Photographen Curry, wohin er auch ging. Sie erwischten ihn vor seiner Firma in der Castro Street. Sie erwischten ihn auf der Treppe seines Hauses.
Er selbst gewährte niemandem mehr Interviews; soviel war in der ersten Juniwoche klar. Die Boulevardblätter nährten sich von Exklusivberichten »aus erster Hand«, von Augenzeugen seines Talents: »Er berührte die Handtasche und erzählte mir dann alles über meine Schwester, und was sie gesagt hatte, als sie mir die Tasche geschenkt hatte. Ich kribbelte am ganzen Körper, und dann sagte er: ›Ihre Schwester ist tot.‹«
Schließlich meldete der lokale CBS-Sender, Curry habe sich in sein Haus in der Liberty Street verkrochen. Seine Freunde seien besorgt. »Er ist desillusioniert und zornig«, berichtete ein alter College-Freund. »Ich glaube, er hat sich einfach von der Welt zurück gezogen.« Ein Reporter der Nachrichtensendung »News at Eleven« stand auf der Treppe eines großen viktorianischen Hauses und deutete auf einen Berg ungeöffneter Briefe, die aus der Mülltonne am Nebeneingang quollen. »Hat Curry sich in dieser großartigen viktorianischen Villa verkrochen, die er vor Jahren selbst so liebevoll restauriert hat? Sitzt oder liegt dort oben in dem erleuchteten Dachzimmer ein einsamer Mann mutterseelenallein?«
Angewidert knipste Rowan den Apparat aus. Sie kam sich vor wie eine Voyeurin. Einfach grauenhaft, dieses Kamerateam bis vor die Haustür des Mannes zu schleifen.
Aber was ihr im Gedächtnis blieb, war das Bild einer Mülltonne voller ungeöffneter Briefe. War ihre Botschaft auch in diesem Haufen gelandet? Der Gedanke an ihn, wie er eingeschlossen in diesem Haus saß, voller Angst vor der Welt, ratbedürftig – das war mehr, als sie ertragen konnte.
Abends, wenn sie aus dem Krankenhaus kam und allein mit dem Boot hinausfuhr, dachte sie unweigerlich an ihn. Es war beinahe warm in den geschützten Gewässern vor Tiburon. Sie ließ sich Zeit, bevor sie in den kälteren Wind der San Francisco Bay fuhr. Dann traf sie auf die heftige Meeresströmung. Er war beinahe
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