Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
bißchen zu sehr fasziniert, nicht wahr?
    Sie studierte die diversen Augenzeugenberichte. Sie wünschte sich, sie hätte fünf Minuten Zeit, um die Tests zu sehen, denen man ihn unterzogen hatte.
    Wieder dachte sie daran, wie er an Deck gelegen hatte, an seinen festen Griff, an seinen Gesichtsausdruck.
    Hatte er in diesem Augenblick durch seine Hand etwas gefühlt? Und was würde er jetzt fühlen, wenn sie hinginge, ihm erzählte, was sie von dem Unfall in Erinnerung hatte, sich auf seine Bettkante setzte und ihn bäte, seinen »Salontrick« vorzuführen – mit anderen Worten, wenn sie ihre mageren Informationen gegen das eintauschte, was auch alle anderen von ihm wollten? Nein.
    Abscheulich, eine solche Forderung zu stellen. Abscheulich, daß sie, eine Ärztin, nicht an das dachte, was er vielleicht nötig hatte, sondern an das, was sie gern wollte. Das war schlimmer, als sich vorzustellen, mit ihm ins Bett zu gehen, mit ihm um drei Uhr morgens am Tisch in der kleinen Kajüte Kaffee zu trinken. Vielleicht sollte sie Curry überhaupt in Ruhe lassen. Vielleicht war es so am besten für sie beide.
     
    Zum Wochenende brachte der San Francisco Chronicle einen langen Artikel auf der Seite eins.
     
    WAS GESCHAH MIT MICHAEL CURRY?
     
    Er war achtundvierzig, Bauunternehmer, Spezialist für die Renovierung alter viktorianischer Häuser, in San Francisco anscheinend eine Legende wegen seiner Fähigkeit, aus einer Ruine eine Villa zu zaubern, ein Genauigkeitsfanatiker, der die Authentizität bis hinunter zu Holzstiften und viereckigen Nagelköpfen trieb. Seine detaillierten Restaurationszeichnungen waren berühmt, ja, sie wurden sogar als Buch mit dem Titel Viktorianische Pracht von innen und außen veröffentlicht.
    Aber jetzt arbeitet er nicht mehr. Seine Firma ist vorübergehend geschlossen. Der Besitzer ist zu sehr mit dem Versuch beschäftigt, sich an das zu erinnern, was ihm in jener entscheidenden Stunde widerfahren ist, da er »tot im Wasser« gelegen hat.
    Was seine neue übersinnliche Fähigkeit angeht – die habe damit nichts zu tun, behauptet er. Sie sei nicht mehr als ein zufälliger Nebeneffekt. »Schauen Sie, alles, was ich da empfange, ist ein Blitz – ein Gesicht, ein Name. Es ist völlig beliebig.«
    An diesem Abend, im Kaffeezimmer im Krankenhaus, sah sie ihn in den Fernsehnachrichten. Da waren sie wieder, diese unvergeßlich blauen Augen und das zupackende Lächeln.
    »Ich muß nach Hause«, sagte er. »Nicht in meine Wohnung, sondern nach New Orleans, dorthin, wo ich geboren wurde. Ich könnte schwören, es hat etwas mit dem zu tun, was passiert ist. Immer wieder sehe ich diese Bilder von zu Hause.« Wieder zuckte er die Achseln. Er schien ein verdammt netter Kerl zu sein.
    »Erzählen Sie uns von Ihren Kräften, Michael.«
    »Ich will darüber nicht reden.« Achselzucken. Er schaute auf seine Hände in den schwarzen Handschuhen. »Ich will mit den Leuten sprechen, die mich gerettet haben – mit der Küstenwache, die mich an Land gebracht hat, mit der Skipperin, die mich aus dem Wasser gefischt hat. Ich wünschte, diese Leute würden sich melden. Sie wissen, daß ich Ihnen dieses Interview deshalb gebe.«
    Die Kamera schwenkte zu zwei Studioreportern. Ein kurzes Geplänkel über »die Kräfte«. Beide hatten sie sozusagen am eigenen Leib erfahren.
    Für einen Augenblick rührte Rowan sich nicht, sie dachte nicht einmal. New Orleans… und er bat sie, Kontakt mit ihm aufzunehmen… Nun, damit war die Sache klar. Rowan hatte eine Verpflichtung. Sie hatte das Flehen aus seinem eigenen Munde gehört. Und diese Sache mit New Orleans, die mußte sie klären. Sie mußte mit ihm sprechen… oder ihm schreiben.
    Sobald sie an diesem Abend zu Hause ankam, setzte sie sich an Grahams alten Schreibtisch, nahm Schreibpapier heraus und schrieb Curry einen Brief.
    Sie erzählte ihm in allen Einzelheiten, was sie im Zusammenhang mit dem Unfall beobachtet hatte, von dem Augenblick an, wo sie ihn im Wasser entdeckt hatte, bis zu dem Moment, in dem man ihn auf die Bahre gelegt hatte. Dann, nach kurzem Zögern, schrieb sie ihre private Telephonnummer und ihre Adresse sowie ein kleines Postskriptum dazu.
    »Mr. Curry, auch ich bin aus New Orleans, obgleich ich nie da gewohnt habe. Ich wurde am Tag meiner Geburt adoptiert. Es ist wahrscheinlich nicht mehr als ein Zufall, daß Sie ebenfalls Südstaatler sind, aber ich finde, Sie sollten es wissen. Auf dem Boot haben Sie meine Hand eine ganze Weile ziemlich festgehalten. Ich

Weitere Kostenlose Bücher