Hexenstunde
hinausschlüpfte. Es war die Zeit, in der sie baden und ihr Haar frisieren sollten. Das war das einzige, was Rita an St. Ro’s wirklich komisch fand. Sie mußten sich frisieren und ein wenig Lippenstift auflegen, weil Schwester Daniel meinte, das gehöre zur »Etikette«. Deirdre brauchte sich nicht zu frisieren. Sie hatte perfekte Locken. Sie brauchte nur ein Haarband.
Um diese Stunde verschwand Deirdre immer. Sie badete als erste, und dann schlich sie sich nach unten und kam erst kurz vor dem Lichterlöschen zurück. Immer spät, immer hastig vor dem Nachtgebet, mit gerötetem Gesicht. Aber dann schenkte sie Schwester Daniel dieses wunderschöne, unschuldige Lächeln. Und wenn Deirdre betete, schien sie es ernst zu meinen.
Rita glaubte, sie sei die einzige, die merkte, daß Deirdre sich hinausschlich. Ihr war es ein Greuel, wenn Deirdre nicht da war. Deirdre war die einzige, die ihr dabei half, sich hier wohl zu fühlen.
Und eines Abends war sie hinuntergegangen, um nach Deirdre zu suchen. Vielleicht saß sie auf der Schaukel. Der Winter war vorüber, und das Zwielicht kam jetzt erst nach dem Abendbrot. Und Rita wußte ja Bescheid über Deirdre und das Zwielicht.
Aber sie fand Deirdre nicht auf dem Spielplatz. Sie ging zur offenen Pforte des Nonnengartens. Dort war es sehr dunkel. Man konnte die Osterlilien erkennen; sie schimmerten weiß. Die Nonnen würden sie am Ostersonntag schneiden. Aber Deirdre würde nie gegen die Hausordnung verstoßen und dort hineingehen.
Doch Rita hörte Deirdres Stimme. Und allmählich erkannte sie Deirdres Gestalt auf der Steinbank im Dunkel. Die Pekanbäume waren hier ebenso groß und tiefhängend wie auf dem Spielplatz. Rita sah erst nur die weiße Bluse, und dann sah sie Deirdres Gesicht und sogar das violette Band in ihrem Haar, und dann sah sie den großen Mann, der neben ihr saß.
Alles war so still. Die Musikbox der Negerkneipe hatte in diesem Moment zu spielen aufgehört. Kein Laut drang aus dem Konvent. Selbst die Lichter im Refektorium der Nonnen schien weit weg zu sein, denn es wuchsen so viele Bäume längs des Säulenganges.
Der Mann sagte zu Deirdre: »Meine Geliebte.« Es war nur ein Wispern, aber Rita hörte es. Und sie hörte, wie Deirdre sagte: »Ja, du sprichst. Ich kann dich hören.«
»Meine Geliebte!« kam es wispernd noch einmal.
Dann weinte Deirdre. Und sie sagte noch etwas, vielleicht einen Namen – Rita wußte es nicht. Es klang wie »Mein Lasher!«
Sie küßten sich; Deirdres Kopf war zurückgebogen, und die hellen Finger des Mannes hoben sich deutlich von ihrem schwarzen Haar ab. Und der Mann sprach wieder.
»Will dich nur glücklich machen, meine Geliebte.«
»Lieber Gott«, flüsterte Deirdre. Und plötzlich sprang sie von der Bank auf, und Rita sah, wie sie über den Pfad zwischen den Lilienbeeten hinunterrannte. Der Mann war nirgends zu sehen. Und Wind war aufgekommen; er wehte durch die Pekanbäume, daß ihre Zweige die Veranda des Konvents peitschten. Der ganze Garten geriet jäh in Bewegung. Und Rita war allein. Beschämt wandte sie sich ab. Sie hätte nicht lauschen dürfen. Und auch sie rannte davon, alle vier Holztreppen hinauf, vom Erdgeschoß bis zum Dach.
Es dauerte noch eine Stunde, bis Deirdre kam. Rita war jämmerlich zumute, weil sie ihr nachgeschlichen war.
Aber spät am Abend, als sie im Bett lag, da wiederholte Rita bei sich die Worte, die sie gehört hatte: Meine Geliebte. Will dich nur glücklich machen, meine Geliebte. Oh, der Gedanke, daß ein Mann so etwas zu Deirdre gesagt haben sollte…
Meine Geliebte. Das erinnerte sie an wunderschöne Musik, an elegant gekleidete Gentlemen in alten Filmen, die es spät abends im Fernsehen zu sehen gab. An Stimmen aus einer anderen Zeit, sanft und klar, an Worte, die wie Küsse klangen.
Und so gut hatte er ausgesehen. Sein Gesicht hatte sie eigentlich nicht gesehen, wohl aber, daß er dunkelhaarig gewesen war, mit großen Augen, hochgewachsen, gut gekleidet, wunderschön gekleidet. Sie hatte die weißen Manschetten und den Kragen seines Hemdes gesehen.
Rita hätte sich auch mit ihm im Garten getroffen, mit einem solchen Mann. Rita wäre zu allem bereit gewesen mit ihm.
Als sie Deirdre dann beschuldigten, war es wie ein Alptraum. Sie waren im Aufenthaltsraum, und alle anderen Mädchen mußten im Schlafsaal bleiben, aber alle konnten es hören. Deirdre brach in Tränen aus, aber sie gestand nicht.
»Ich habe den Mann selbst gesehen!« rief Schwester Daniel. »Willst du
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