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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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brachten.«
    »Natürlich, das kann er tun. Ich weiß nicht, wieso ich darauf nicht schon selbst gekommen bin.«
    »Im Ernst? Gott, Sie ahnen nicht, wie erleichtert ich bin. Und, Dr. Mayfair, ich will Ihnen eines sofort sagen: Dieser Kerl ist ein verdammt netter Kerl.«
    »Ich weiß.«
    »Und Sie sind eine ganz besondere Ärztin, Dr. Mayfair. Aber wissen Sie auch, worauf Sie sich da einlassen? Ich habe ihn angefleht, wirklich angefleht, in die Klinik zurück zu kommen. Und gestern abend ruft er mich an und verlangt, daß ich Sie unverzüglich auftreibe. Er müsse die Hände auf die Schiffsplanken legen, weil er sonst verrückt werde. Ich sage: Werden Sie nüchtern, Michael, und ich versuch’s. Und vor zwanzig Minuten ruft er mich wieder an, unmittelbar vor meinem Anruf bei Ihnen. ›Ich werde Sie nicht belügen‹, sagt er. ›Ich habe heute einen Kasten Bier getrunken, aber den Wodka und den Scotch habe ich nicht angerührt. Ich bin so nüchtern, wie es mir nur möglich ist. ‹«
    Sie lachte leise. »Man möchte weinen um seine Gehirnzellen.«
    »Das kann man wohl sagen. Aber worauf ich hinaus will: Der Mann ist verzweifelt. Und es wird nicht besser mit ihm. Ich würde so etwas nie von Ihnen verlangen, wenn er nicht einer der nettesten…«
    »Ich hole ihn ab. Können Sie ihn anrufen und ihm sagen, daß ich unterwegs bin?«
    »Gott, das ist großartig. Dr. Mayfair, ich kann Ihnen nicht genug danken.«
    »Rufen Sie ihn gleich an, Dr. Morris. In einer Stunde stehe ich vor seiner Haustür.«
    Einen Moment lang starrte sie das Telephon an. Dann nahm sie ihr Namensschild ab, legte den schmutzigen weißen Kittel ab und zog langsam die Nadeln aus ihrem Haar.

 
    5
     
     
    Da hatten sie also nach all den Jahren wieder versucht, Deirdre Mayfair einzusperren. Jetzt, wo Miss Nancy nicht mehr da war und Miss Carl von Tag zu Tag schwächer wurde, war es wohl auch am besten so. Das jedenfalls meinten die Leute. Am 13. August hatten sie es versucht. Aber Deirdre war wild geworden, und sie hatten sie in Ruhe gelassen, und jetzt ging es schlimm bergab mit ihr, wirklich schlimm.
    Als Jerry Lonigan seiner Frau Rita davon erzählte, weinte sie.
    Dreizehn Jahre war es her, daß Deirdre Mayfair aus dem Sanatorium zurück gekommen war, eine besinnungslose Idiotin, die ihren eigenen Namen nicht mehr kannte, aber Rita kümmerte das nicht. Rita würde die wahre Deirdre niemals vergessen.
    Rita und Deirdre waren sechzehn gewesen, als sie zusammen im Internat St. Rose de Lima gewesen waren. Und Rita war hingeschickt worden, weil sie »böse« war: Sie hatte mit den Jungen getrunken. Ihr Dad hatte gemeint, in St. Ro’s würde man ihr die Flausen schon austreiben. Alle Mädchen hatten in einem Schlafsaal unter dem Dach geschlafen. Und um neun hatten sie ins Bett gehen müssen. Rita hatte sich oft in den Schlaf geweint.
    Deirdre Mayfair war lange in St. Ro’s. Ihr machte es nichts aus, daß das Haus alt und düster war und daß es dort streng zuging. Sie hielt Ritas Hand, wenn Rita weinte. Sie hörte zu, wenn Rita sagte, es sei wie ein Gefängnis hier.
    »Kümmere dich nicht darum«, sagte Deirdre. Sie nahm Rita am späten Nachmittag mit hinunter zum Spielplatz. Sie schaukelten unter dem Pekanbaum. Man sollte nicht meinen, daß dies einem sechzehnjährigen Mädchen besonders viel Spaß gemacht hätte, aber Rita war dabei selig, wenn sie mit Deirdre zusammen war.
    Deirdre sang, wenn sie schaukelten – alte irische und schottische Balladen, sagte sie. Sie hatte einen richtigen, echten Sopran, zart und hoch, und die Lieder waren so traurig. Rita schauderte es, wenn sie sie hörte. Deirdre blieb zu gern draußen, bis die Sonne untergegangen war und der Himmel »reines Purpur« war und die Zikaden in den Bäumen wirklich loslegten. Deirdre nannte das »Zwielicht«.
    Rita hatte das Wort schon geschrieben gesehen, ja, aber daß es jemand wirklich sagte, hatte sie noch nicht gehört. Zwielicht.
    Deirdre nahm Rita bei der Hand, und sie wanderten an der Ziegelmauer entlang, unter den Pekanbäumen hindurch, so daß sie sich unter den tiefhängenden, blattreichen Ästen ducken mußten. An manchen Stellen konnte man stehen und war völlig verborgen von den Bäumen. Es war verrückt, wenn man es beschreiben wollte, aber es war eine so seltsame und wunderbare Zeit für Rita – dort im Halbdunkel mit Deirdre zu stehen, wenn die Bäume sich im Wind wiegten und winzige Blätter auf sie herabregneten.
    Sie spazierten in den staubigen Säulengang bei der

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