Hexenstunde
auch einen Spaltbreit aufgehalten, oder nicht? Und Miss Carl sah eigentlich nicht bösartig aus. Nur geschäftsmäßig.
»Wollte sie nur besuchen, wissen Sie; sie war meine beste Freundin in St. Ro’s…«
Jedesmal, wenn Miss Carl auf ihre höfliche Art nein sagte, sagte Rita auf irgendeine andere Weise ja und erzählte, wie eng ihr Verhältnis zu Deirdre gewesen war.
Dann hörte sie Deirdres Stimme oben an der Treppe.
»Rita Mae!«
Deirdres Gesicht war tränennaß, und ihr Haar hing strähnig bis auf die Schultern. Barfuß rannte sie die Treppe herunter, Rita entgegen, und Miss Nancy – die Stämmige – folgte dicht hinter ihr.
Miss Carl faßte Rita fest beim Arm und schob sie zur Tür.
»Moment mal!« rief Rita.
»Rita Mae, sie wollen mir mein Baby wegnehmen!«
Miss Nancy packte Deirdre um die Taille und hob sie auf der Treppe hoch.
»Rita Mae!« kreischte Deirdre. Sie hatte etwas in der Hand, eine kleine weiße Karte anscheinend.
»Rita Mae, ruf diesen Mann an. Sag ihm, er soll mir helfen.«
Miss Carl stellte sich Rita in den Weg.
»Geh nach Hause, Rita Mae Lonigan«, befahl sie.
Aber Rita huschte flink um sie herum. Deirdre sträubte sich und versuchte sich aus Miss Nancys Umschlingung zu befreien, und Miss Nancy verlor das Gleichgewicht und taumelte an das Treppengeländer. Deirdre wollte Rita die kleine weiße Karte zuwerfen, aber sie flatterte auf die Treppenstufen. Miss Carl versuchte sie aufzuheben.
Und dann war es wie an Mardi Gras, wenn die Leute sich um den Firlefanz prügelten, der von den Prunkwagen herabgeworfen wurde. Rita stieß Miss Carl beiseite und raffte die Karte an sich, wie man eine Glasperlenkette vom Pflaster aufklaubt, ehe sie jemand anderes zu fassen bekommt.
»Rita, ruf diesen Mann an!« schrie Deirdre. »Sag ihm, ich brauche ihn.«
»Das mach’ ich, Dee Dee!«
Miss Nancy zerrte sie jetzt wieder die Treppe hinauf; ihre nackten Füße schleiften hinterher, und ihre Hände krallten sich in Miss Nancys Arm. Es war schrecklich, einfach schrecklich.
Und dann packte Miss Carl Ritas Handgelenk.
»Gib das her, Rita Mae Lonigan«, befahl sie.
Rita riß sich los und rannte zur Haustür hinaus, die kleine weiße Karte fest in der Hand. Sie hörte, wie Miss Carl ihr über die Veranda nachsetzte, und dann spürte sie einen scharfen, häßlichen Schmerz, als sie am Haar zurückgerissen wurde. Fast wäre sie hingefallen.
»Mach das ja nicht mit mir, du alte Hexe!« fauchte Rita mit zusammengebissenen Zähnen. Sie konnte es nicht ausstehen, an den Haaren gezogen zu werden.
Miss Carl wollte ihr das weiße Kärtchen aus der Hand reißen. So etwas Schlimmes hatte Rita noch nie erlebt. Miss Carl zog und riß eine Ecke von der Karte ab, doch Rita ließ nicht los; mit der anderen Hand zerrte Miss Carl weiter an Ritas Haaren, so heftig sie konnte. Sie würde sie gleich mit den Wurzeln ausreißen.
»Aufhören!« kreischte Rita. »Ich warne Sie, ich warne Sie wirklich!« Sie zog die Karte weg und zerknüllte sie in der Faust. So einfach konnte man doch eine alte Dame nicht schlagen.
Aber als Miss Carl erneut an ihren Haaren riß, schlug Rita zu. Sie schlug Miss Carl mit dem rechten Arm vor die Brust, und Miss Carl fiel in die Chinabeerbüsche. Wenn nicht so viele Büsche dagewesen wären, wäre Miss Carl auf die Erde gefallen.
Rita rannte zum Tor hinaus.
Es stürmte. Alle Bäume waren in Bewegung. Sie sah, wie die dicken schwarzen Eichenäste im Wind schwankten, und hörte das laute Getöse, das große Bäume immer machen. Die Zweige peitschten das Haus, kratzten an der Veranda im ersten Stock. Plötzlich hörte sie zerklirrendes Glas.
Sie blieb stehen und drehte sich um, und sie sah, wie ein Schauer von kleinen grünen Blättern über das ganze Anwesen hernieder ging. Dünne Äste und Zweige wirbelten herab. Es war wie in einem Hurrikan. Miss Carl stand auf dem Weg und starrte zu den Bäumen hinauf. Zumindest hatte sie sich also nichts gebrochen.
Guter Gott, jetzt würde es jeden Augenblick anfangen zu regnen. Rita würde patschnaß sein, ehe sie auch nur bis zur Magazine Street käme – zu allem Überfluß, nachdem nun schon ihre Frisur zerstört war und ihr die Tränen übers Gesicht strömten. Sie bot wirklich einen schönen Anblick.
Aber es regnete nicht. Sie erreichte Lonigan und Söhne, ohne naß zu werden. Und als sie in Jerrys Büro saß, konnte sie nur noch weinen. Schließlich schaute sie die kleine weiße Karte an. »Sieh dir das an, Jerry! Willst du es dir bitte
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