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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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verlangen?«
    In diesen letzten, qualvollen Wochen hatte sie ihre furchtbare, zerstörerische Kraft schmerzhafter denn je gefürchtet, denn was wäre gewesen, wenn sie sie in ihrer wütenden Trauer gegen Ellie gerichtet und dieses dumme, nutzlose Leiden ein für allemal beendet hätte? Ich könnte dich töten, Ellie, ich könnte dich erlösen. Ich weiß, daß ich es könnte. Ich fühle es in mir; es wartet nur auf diese Probe.
    Was bin ich? Eine Hexe, um der Liebe Gottes willen! Ich bin eine Heilerin, keine Zerstörerin. Ich habe eine Wahl, wie jeder Mensch eine Wahl hat!
    Und der Engländer hatte dagestanden und sie ganz fasziniert betrachtet, als habe sie gesprochen, wo sie geschwiegen hatte. Es war fast gewesen, als habe er gesagt: Ich verstehe. Aber das war natürlich eine Illusion gewesen. Er hatte gar nichts gesagt.
    Gepeinigt, verwirrt, hatte sie sich auf dem Absatz umgedreht und ihn stehenlassen. Er mußte sie für feindselig, ja, für verrückt gehalten haben. Aber was machte das schon? Aaron Lightner. Sie hatte nicht einmal einen Blick auf die Karte geworfen, bevor sie sie ihm zurückgegeben hatte. Und sie wußte nicht, weshalb sie sich trotzdem an den Namen erinnerte – aber sie erinnerte sich an ihn und an die seltsamen Dinge, die er gesagt hatte.
     
    Ob Michael Currys Leben so vor seinem Auge vorüber gezogen war, fragte Rowan sich manchmal, wie meines jetzt an mir vorüberzieht? So oft hatte sie schon auf das lächelnde Gesicht gestarrt, auf dieses Blatt, das sie aus einer Illustrierten gerissen und an ihren Spiegel geklebt hatte. Und sie wußte, wenn sie ihn sähe, würde dieser Damm bestimmt brechen. Sie träumte davon, wie sie mit Michael Curry redete, als könnte es wirklich geschehen, als könnte sie ihn mit in das Haus in Tiburon nehmen, als könnten sie zusammen Kaffee trinken, als könnte sie seine behandschuhte Hand berühren.
    Ah, so eine romantische Vorstellung. Ein tough guy, der schöne Häuser liebte, schöne Zeichnungen machte. Vielleicht hörte er Vivaldi, dieser tough guy, vielleicht las er wirklich Dickens. Und wie mochte es wohl sein, einen solchen Mann im Bett zu haben, nackt bis auf die weichen schwarzen Lederhandschuhe?
    Ah, die Phantasie. Ganz so wie die Vorstellung, daß die Feuerwehrmänner, die sie mit nach Hause nahm, sich als Poeten entpuppen könnten, daß die Polizisten, die sie verführt hatte, sich als große Romanciers offenbaren würden, daß der Förster, den sie in der Bar in Bolinas kennengelernt hatte, in Wirklichkeit ein großer Maler wäre und der Vietnamveteran, der sie mit in seine Hütte im Wald genommen hatte, ein berühmter Filmregisseur, der sich vor einer anspruchsvollen und ihn verehrenden Welt verbarg.
    Sie stellte sich solche Dinge vor, und sie waren natürlich durchaus möglich. Aber letzten Endes war vor allem der Körper entscheidend – die Wölbung in den Jeans mußte groß genug sein, der Hals muskulös, die Stimme tief, das grob rasierte Kinn rauh genug, um zu kratzen.
    Aber was wäre, wenn…?
    Aber was wäre, wenn Curry in den Süden zurückgegangen war, wo er hergekommen war? Wahrscheinlich war genau das geschehen. Nach New Orleans, dem einzigen Ort auf der Welt, wohin Rowan Mayfair nicht gehen durfte.
     
    Das Telephon klingelte, als sie ihre Bürotür aufschloß.
    »Dr. Mayfair?«
    »Dr. Morris?«
    »Ja. Ich habe versucht, Sie zu erreichen. Es geht um Michael Curry.«
    »Ja, ich weiß, Doktor. Ich habe Ihre Nachricht bekommen. Ich wollte eben anrufen.«
    »Er will Sie sprechen.«
    »Dann ist er noch in San Francisco?«
    »Er versteckt sich in seinem Haus in der Liberty Street.«
    »Ich hab’s in den Fernsehnachrichten gesehen.«
    »Aber mit Ihnen will er sich treffen. Ich meine – na ja, um es geradeheraus zu sagen, er will Sie persönlich sehen. Er hat so eine Idee…«
    »Ja?«
    »Na, Sie werden diesen Irrsinn für ansteckend halten, aber ich gebe nur seine Botschaft weiter. Besteht die Chance, daß Sie sich mit diesem Burschen auf Ihrem Boot treffen könnten – ich meine, es war doch Ihr Boot, auf dem Sie an dem Abend waren, an dem Sie ihn retteten, oder?«
    »Mit Vergnügen fahre ich ihn mit dem Boot zurück.«
    »Was haben Sie gesagt?«
    »Daß ich mich mit Vergnügen mit ihm treffe.«
    »Das ist absolut großartig von Ihnen. Dr. Mayfair. Aber ich muß Ihnen ein paar Dinge erklären. Ich weiß, es klingt verrückt, aber er möchte seine Handschuhe ausziehen und die Decksplanken berühren, auf denen er lag, als Sie ihn zu sich

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