Hexenstunde
ansehen?«
Die Karte war ganz zerdrückt und feucht von ihrer Handfläche. Wieder verlor Rita die Fassung.
»Ich kann die Zahlen nicht mehr lesen!«
»Immer mit der Ruhe, Rita«, sagte Jerry. Er war geduldig wie immer, ein wirklich gutherziger Mann, wie er immer einer gewesen war. Er trat neben sie und strich die kleine Karte auf der Löschpapierunterlage auf seinem Schreibtisch glatt. Dann holte er sein Vergrößerungsglas hervor.
Der mittlere Teil war klar zu lesen:
DIE TALAMASCA
Aber mehr war nicht zu erkennen. Die Worte, die darunter standen, waren kleine schwarze Tintenflecke in der breiigen weißen Papiermasse. Und was immer am unteren Rand gestanden hatte, war gänzlich ruiniert. Es war einfach nichts mehr da.
Jerry preßte die Karte unter zwei dicken Büchern, aber auch das half nichts. Sein Dad kam und schaute sich die Sache an. Auch er konnte nichts erkennen. Der Name Talamasca sagte Red nichts. Und der alte Red kannte so gut wie alles und jeden.
»Schaut, hier auf der Rückseite ist etwas mit Tinte geschrieben«, sagte er. »Seht doch.«
Aaron Lightner. Aber eine Telephonnummer war nicht dabei. Die Telephonnummer mußte vorn aufgedruckt gewesen sein. Selbst das Bügeln mit einem heißen Eisen half nichts.
Rita tat, was sie konnte.
Sie suchte im Telephonbuch nach Aaron Lightner und der Talamasca, was immer das sein mochte. Sie rief die Auskunft an. Sie flehte die Telephonfrau an, ihr zu sagen, ob es eine Geheimnummer gebe. Sie setzte sogar Kleinanzeigen in die Times-Picayune und in den States-Item.
»Darling, geh nicht noch mal in das Haus«, bat Red sie. »Nicht, daß ich Angst vor Miss Carlotta hätte oder so was. Ich will nur nicht, daß du mit diesen Leuten etwas zu tun hast.«
Rita sah, wie Jerry seinen Vater anschaute und wie sein Vater ihn anschaute. Sie wußten etwas, das sie ihr nicht sagten. Rita wußte, daß Lonigan und Söhne Deirdres Mutter bestattet hatten, als sie vor Jahren aus dem Fenster gefallen war; so viel hatte sie mitbekommen, und auch, daß Red sich noch an die Großmutter erinnerte, die »jung gestorben« war, wie Deirdre ihr erzählt hatte.
Aber die beiden waren verschwiegen, wie Leichenbestatter es sein müssen. Und Rita war jetzt zu jämmerlich zumute, als daß sie die Geschichte dieses schrecklichen alten Hauses und der Frauen darin hätte hören mögen.
Wieder verging ein Jahr, bevor Rita Deirdre wiedersah. Das Baby war längst nicht mehr da. Irgendwelche Verwandten in Kalifornien hatten es zu sich genommen. Nette Leute, behaupteten alle. Reiche Leute. Der Mann sei Anwalt wie Miss Carl. Für das Baby würde gut gesorgt werden.
Von Schwester Bridget Marie in St. Alphonsus hörte Jerry, daß die Nonnen im Mercy Hospital erzählt hätten, das Baby sei ein bildschönes kleines Mädchen mit blonden Haaren gewesen. Ganz anders als Deirdre mit ihren schwarzen Locken. Und Pater Lafferty habe Deirdre das Baby in die Arme gelegt und gesagt: »Küsse dein Kind«, und dann habe er es ihr weggenommen.
Rita überlief es kalt. Wie wenn man einen Leichnam küßte, bevor der Sarg geschlossen wurde. »Küsse dein Kind« – und dann einfach weggenommen.
Kein Wunder, daß Deirdre vollständig zusammengebrochen war. Sie brachten sie von der Entbindungsklinik geradewegs ins Sanatorium.
»Ist nicht das erste Mal für die Familie«, bemerkte Red Lonigan kopfschüttelnd. »Lionel Mayfair ist so gestorben – in einer Zwangsjacke.«
Rita fragte, was er damit meinte, aber er antwortete nicht.
Schließlich erfuhr Rita, daß Deirdre wieder zu Hause sei. An diesem Sonntag beschloß Rita, zur Messe in die Kapelle der Heiligen Mutter der Immerwährenden Hilfe im Garden District zu gehen. Dorthin gingen die reichen Leute meistens. Sie kamen nicht in die großen alten Pfarrkirchen – St. Mary und St. Alphonsus – auf der anderen Seite der Magazine Street.
Rita ging in die Zehn-Uhr-Messe und dachte sich, na, ich werde auf dem Rückweg einfach mal am Hause Mayfair vorbeischauen. Aber das brauchte sie nicht, denn Deirdre war in der Kirche; sie saß zwischen ihren Großtanten Miss Belle und Miss Millie. Miss Carlotta war gottlob nicht dabei.
Rita fand, daß Deirdre furchtbar aussah – wie ein Geist zu Fuß, hätte ihre Mutter gesagt. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, und ihr Kleid war ein glänzendes Gabardine-Ding, das ihr nicht paßte. Die Schultern waren ausgepolstert. Eine der alten Frauen im Haus mußte es ihr gegeben haben.
Als sie nach der Messe die Marmortreppe
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