Hexentraum
kann, für beide Seiten sehr nützlich war. Das hält uns von inneren Streitigkeiten ab, und davon, unsere Führung in Frage zu stellen.«
Die Hohepriesterin erbleichte, und wenn Anne-Louise nicht alles täuschte, schlich sich ein ängstlicher Ausdruck in die Augen ihres Gegenübers. Sie bohrte weiter.
»Warum sonst hättet Ihr nur die Schwächsten aus unserem Zirkel in die Schlacht schicken sollen? Dazu jene, die den Mädchen eine gewisse Sympathie entgegenbringen, und alle, die Eure Entscheidungen je in Frage gestellt haben?«
Schweigen so still wie der Vollmond senkte sich über den Raum. Anne-Louise starrte ihre Anführerin an. Wahrscheinlich hatte sie die Hohepriesterin schockiert. Anne-Louise war sehr jung zur Waise geworden und im Zirkel aufgewachsen. Sie war immer die brave kleine Hexe gewesen, die stets tat, was man ihr sagte, ging, wohin man sie schickte, und nur das studierte, was man ihr zu lernen vorgab.
Jetzt war ihr das gleichgültig. Vielleicht lag es an den Schmerzen, vielleicht auch daran, dass sie das Massaker an ihren Freundinnen und Schwestern mit angesehen hatte, oder an den nie gestellten Fragen eines ganzen Lebens, die endlich nach Antworten verlangten. Aber woran es auch liegen mochte, sie wusste, dass sie bei der Hohepriesterin einen empfindlichen Punkt getroffen hatte. Die Frau lief Gefahr, ihre Machtposition im Zirkel zu verlieren. Anne-Louise war nicht die Einzige, die seit der Schlacht an ihren Entscheidungen zweifelte.
Sie starrte die Hohepriesterin weiterhin an, obwohl sie es noch vor einer Woche kaum gewagt hätte, ihr in die Augen zu blicken. Aber die Welt hatte sich verändert. Ich habe mich verändert. Sie hatte die Hohepriesterin stets als von der Göttin geweiht betrachtet, ja beinahe selbst als eine Gottheit. Jetzt sah sie nur eine müde Frau, die noch verängstigter wirkte als die jungen Frauen, die zwei Nächte zuvor dem Tod ins Auge geblickt hatten.
Anne-Louise wusste nur, dass sie nicht als Erste den Blick abwenden würde. Die Hohepriesterin hob leicht das Kinn und schien ihren mystischen Nimbus zu sammeln, um sich darin einzuhüllen. Aus ihren Augen blitzten Glut und Macht, wahre Macht.
Die Tür ging auf, drei Hexen traten ein, und der Augenblick war zerstört. Sie schlossen die Tür hinter sich, und die Hohepriesterin wandte sich zu ihnen um und grüßte sie förmlich. Alle drei neigten den Kopf.
»Ihr sollt euch weiter um Anne-Louise kümmern.« Das war eine Feststellung, keine Frage. Die drei nickten und traten ans Bett.
»Dann überlasse ich dich jetzt den Heilerinnen«, informierte die Hohepriesterin Anne-Louise. Sie lächelte kühl und verließ den Raum, indem sie durch die geschlossene Tür hindurchglitt. Das war eine schlichte Machtdemonstration, aber ziemlich effektvoll, wie Anne-Louise sich eingestehen musste.
Sie schloss die Augen, als die Heilerinnen die Hände auf ihren vielfach gebrochenen Körper legten. Sie spürte Hitze, die sie mit qualvoller Intensität durchdrang. Abgesplitterte Knochenstückchen begannen sich in ihrem Körper an den rechten Platz zu bewegen, wobei sie noch mehr Muskeln und Gefäße zerrissen. Bald würden die Heilerinnen anfangen, ihre Knochen wieder zusammenzufügen, aber heute noch nicht. Erst mussten sie sämtliche Knochensplitter finden.
Anne-Louise lag still da. Die Heilerinnen waren wieder gegangen, nachdem sie ihr Bestes getan hatten, zumindest eine Weile den Schmerz zu betäuben. Trotzdem tat ihr jede Bewegung, ja sogar das Atmen weh.
Miau!
Sie öffnete die Augen und sah eine graue Katze neben sich aufs Bett hüpfen. Die Katze starrte sie mit großen runden Augen an, ohne zu blinzeln. »Wo kommst du denn her?«, fragte sie mit gequälter Flüsterstimme.
Die Katze begann zufrieden zu schnurren und starrte sie weiterhin an.
»Hast du einen Namen?«
Wisper.
»Wisper, ja, das passt zu dir«, sagte sie und spürte, wie ihre Lider schwer wurden.
Die Katze rollte sich dicht an sie geschmiegt zusammen und wärmte sie mit ihrem kleinen Körper. Ein behagliches Gefühl breitete sich in Anne-Louise aus, und sie schlief mit einem Lächeln auf den Lippen ein.
Der Dreifache Zirkel: Seattle
Amanda wachte auf, weil ihr die Sonne in die Augen schien. Sie drehte sich stöhnend auf die Seite, setzte sich aber hastig auf, als ihre angeknacksten Rippen schmerzhaft protestierten. Sie erstickte ein Schluchzen. Neben ihr regte sich Tommy. Sie sah auf die Uhr. Es war neun Uhr morgens. Sie hatten fast vierundzwanzig Stunden lang
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