Hexentraum
ab.
Kari stand langsam und mit zitternden Knien auf. Sie konnte sich an die vergangenen vierundzwanzig Stunden kaum erinnern. Alles war wie verschleiert, aber sie musste wissen, von wem die beiden sprachen. »Wer?«, fragte sie. Ihre Kehle war so trocken, dass ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern war.
Michael und der Wichtel ignorierten sie. Stattdessen hüpfte das Geschöpf einfach weiterhin auf und ab und brabbelte auf Michael ein. Der strich sich übers Kinn und machte ein nachdenkliches Gesicht.
»Wer?«, fragte sie. Ihre Stimme brach, klang aber schon ein wenig kräftiger.
Sie ignorierten sie immer noch, und einen verrückten Moment lang dachte sie, sie könnte ein Geist sein. Michael Deveraux hat mich getötet, und jetzt bin ich hier gefangen, sehe alles, ohne gesehen zu werden, höre alles, doch niemand hört mich. Sie griff nach einer Tischlampe und schmetterte sie auf den Boden. Sie zersprang.
Michael drehte sich um und starrte sie an. »Was hat dein Coven nur gegen Lampen?«, fragte er in beinahe liebenswürdigem Tonfall. »Lampen kaputt machen war alles, was Holly anfangs tun wollte.«
»Wer?«, brüllte sie.
Er zog eine Augenbraue hoch. »Wer die Frau ist, weiß ich nicht - allerdings gibt es sehr wenige weibliche Hexer im Obersten Zirkel, also dürfte es nicht allzu schwierig sein, das festzustellen.«
»Der Mann, wer ist der Mann?«, fragte sie langsam und betont.
Er lächelte belustigt. »Ach, das ist nur Jeraud.«
»Jer?«, fragte sie, denn sie fürchtete, sie könnte sich verhört haben.
Michael nickte.
»Er lebt noch?«
»Anscheinend. Offenbar hat er es geschafft, aus der Traumzeit zurückzukehren, und jetzt ist er auf dem Weg hierher.«
Sie hielt sich an einem Stuhl fest und setzte sich rasch, ehe sie in Ohnmacht fallen konnte. Er lebt! Ihr Herz schwang sich einen wunderbaren Augenblick lang dem Himmel entgegen, ehe es wieder abstürzte. »Sie wollen Jer töten«, warf sie ihm vor.
»Warum überrascht dich das so?«, fragte er mit boshaftem Grinsen.
»Er ist Ihr Sohn!«
»Und ich habe seine Eskapaden lange genug toleriert. Alle Eltern hoffen, dass sie eines Tages stolz auf ihre Kinder sein können, dass diese mehr erreichen werden als sie selbst und dass sie einen prachtvollen Zweig des Familienstammbaums abgeben werden.«
»Aber?«
»Tja, wie jeder gute Gärtner weiß, muss man einen Baum hin und wieder stutzen. Bedauerlicherweise ist Jer nichts weiter als ein ertragloser Zweig, den ich zurückschneiden werde.«
»Aber Sie haben mir versprochen ...«
»Nein, meine Liebe«, sagte er und trat näher. »Wenn du dich an unsere Unterhaltung erinnern möchtest - ich habe dir gar nichts versprochen. Das ist eine meiner wenigen Gemeinsamkeiten mit meinem Sohn«, fügte er höhnisch hinzu.
»Er kommt hierher?«, fragte sie, immer noch benommen.
»Ja.«
Sie reckte das Kinn. »Dann kommt er, um mich zu retten. Und Sie werden alles bereuen.«
Michael lachte, und es klang aufrichtig und überrascht. Er kniete sich neben sie, so dass er ihr auf Augenhöhe ins Gesicht sehen konnte, und starrte ihr in die Augen. »Meine Liebe, bist du wirklich so verblendet, dass du glaubst, er käme hierher, um dich zu retten?« Er schnalzte mit der Zunge. »Mach dir nichts vor, Schätzchen. Er kommt her, um Holly zu retten.«
Seine Worte trafen sie tief. Er stand langsam auf und schlug die letzten Nägel in den Sarg, in dem nun all ihre Träume lagen. »Nicht dich. Du warst ihm nie so wichtig.« Er wandte sich ab und ging davon, und der Wichtel trottete neben ihm her.
Kari blieb auf dem Stuhl sitzen, überwältigt von Trauer. Jer lebt, und er kommt hierher, um zu sterben.
Lass ihn sterben, flüsterte eine andere Stimme in ihrem Kopf. Sieh nur, was er dir angetan hat.
Er hat das nicht getan. Das war Holly; alles ist allein ihre Schuld. Jer würde mich immer noch lieben, wenn sie nicht gewesen wäre.
Holly sollte an seiner Stelle sterben. Immerhin würdest du auch für ihn sterben. Wenn sie ihn liebt, wird sie sich für ihn opfern. Oder du tötest sie gleich, dann braucht Jer sein Leben nicht mehr aufs Spiel zu setzen, und du könntest ihn wiederhaben.
Du verdienst mehr.
Bei diesem Gedanken brach sie schluchzend zusammen. »Nein, das stimmt nicht!«, rief sie laut. »Das stimmt nicht, ich verdiene gar nichts. Ich habe sie alle verraten.«
Der Mutterzirkel: Santa Cruz
Anne-Louise hatte stundenlang im Internet recherchiert und Ahnenforschung betrieben. Aber jedes Mal, wenn sie geglaubt hatte,
Weitere Kostenlose Bücher