Hexenzorn
damit ihren Lichtzauber wieder auf, schraubte das Sehvermögen auf das gewöhnliche Maß zurück. B. und Rondeau rieben sich fluchend die Augen.
Dieser Nachteil war ihr nie in den Sinn gekommen. Feenlichter wären besser gewesen. Sie kniff die Augen zusammen und sah überall lilafarbene Punkte, während sie die Umgebung nach potentiellen Bedrohungen untersuchte. Der kurze Blendeffekt wäre der ideale Zeitpunkt für einen Überraschungsangriff gewesen, aber Bethany schien nichts dergleichen im Schilde zu führen.
»Ich glaub’s einfach nicht«, sagte B. und rieb sich immer noch die Augen. »Das ist eine BART-Station.«
Auf einem blau-weißen Schild an der weiß gefliesten Wand stand ›Tenderloin‹. Sie waren unverkennbar auf einem U-Bahn-Bahnsteig, einem langen Streifen Beton mit Gleisen zu beiden Seiten. Auf den Wänden hinter den Gleisen waren zwar nicht die allgegenwärtigen Werbeplakate, die Marla in den anderen Bahnhöfen gesehen hatte, und es gab auch keinen leuchtend gelb und schwarz markierten Sicherheitsstreifen an den Rändern des Bahnsteigs, der die Unbedarften und die Sehbehinderten darauf hinwies, dass sich gleich dahinter eine unter Strom stehende Schiene befand. Doch davon abgesehen hätte dies ein U-Bahnhof wie jeder andere sein können, den Marla bisher in der Stadt gesehen hatte.
»Hier drüben hängt sogar ein Plan vom Schienennetz«, sagte B. »Er sieht genauso aus wie die in den anderen Bahnhöfen. Nur dass hier auch eine Tenderloin Station eingezeichnet ist.«
Marla betrachtete den Schienenplan, auf dem die einzelnen
Strecken farbig gekennzeichnet waren. Die Tenderloin Station war mit einem Kreis markiert, aber keine der anderen Verbindungen schien zu dem Bahnhof zu führen. Nur eine dünne, schwarze Linie führte eine kurze Strecke davon weg und schloss sich dann zu einem Kreis. Marla fuhr mit dem Finger die Karte entlang bis nach unten, wo normalerweise die Fahrpläne hingen, doch dieser Bereich war leer.
Rondeau stand am Rand des Bahnsteigs und spähte zuerst in die eine Richtung, dann in die andere. »Gehen wir da zu Fuß rein?«, fragte er.
»Nur wenn ich vollkommen die Geduld verliere«, sagte Marla. »Ich bin nicht scharf darauf, plattgewalzt zu werden. Falls Bethany zuhause ist, weiß sie, dass wir hier sind, und falls sie neugierig geworden ist - was sie mit Sicherheit ist, denn Magier sind von Natur aus wissbegierig -, wird sie uns einen Zug vorbeischicken. Oder sie kommt selbst her, was ich allerdings bezweifle. Wenn man die Leute zu sich kommen lässt, ist man in der stärkeren Position.«
Sie warteten, und Marla machte ein paar einfache Kampfkunstübungen, um ihren Körper in Bewegung zu halten - nichts allzu Fortgeschrittenes, denn falls sie beobachtet wurden, schien es ihr ratsam, weniger gefährlich zu erscheinen, als sie es tatsächlich war. Rondeau saß auf dem Boden, starrte die gegenüberliegende Wand an und sang, beeindruckend falsch, Beatles-Songs. B. war erstaunlich unruhig, setzte sich ein paar Sekunden lang hin, stand dann wieder auf, um ein paar Mal den Bahnsteig auf und ab zu laufen, blieb dabei aber immer wieder stehen und starrte in den Tunnel.
»An was denken Sie gerade, B.?«, fragte Marla.
»Ach«, sagte er, »ich habe ein paar seltsame Erfahrungen
mit Zügen gemacht. Zwar nicht gerade auf geheimen Bahnhöfen, aber das macht die Situation auch nicht angenehmer.«
»Und wie genau sehen Ihre Erfahrungen mit Zügen aus?«, fragte Rondeau. »Ich hätte Lust auf ein bisschen Unterhaltung. Das White Album hab ich schon durch, und Marla ist jedes Mal angepisst, wenn ich was von Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band singe.«
»Erzählen Sie es uns«, sagte Marla.
»Es ist jetzt ungefähr ein Jahr her«, sagte B. »Ich traf diesen Typen, Jay … seine Freundin war vor Kurzem gestorben, und er hatte diese fixe Idee, dass er ins Reich der Toten reisen und sie zurückbringen könnte. Und ich musste ihm dabei helfen, das wusste ich, weil ich von ihm geträumt hatte, bevor ich ihn überhaupt kannte …«
»In einem Traum, wie Sie ihn von mir geträumt haben«, sagte Marla.
»Ja. Einen von diesen Träumen. Ich wusste, dass es zwecklos war, Jay aus dem Weg zu gehen - ich habe schon öfter versucht, derlei Dinge zu vermeiden, und es hat nie funktioniert -, also erklärte ich mich bereit, ihm zu helfen. Wir versteckten uns in einer BART-Station, bis sie zugesperrt wurde. Sehr spät in der Nacht kam ein Zug, aber es war kein normaler Zug. Er sah aus wie ein
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