Hexenzorn
menschlicher Oberschenkelknochen mit Fenstern, und statt Halteschlaufen hingen knöcherne Haken von der Decke. Wir stiegen ein und fuhren tief hinunter, an einen Ort …« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wohin genau. Wenn ich zurückdenke, ist alles schwammig, im Nebel, nur Bilder … Bäume, Umrisse in den Schatten, Bienen, vielleicht Eidechsen und eine Höhle, obwohl es keine Höhle gewesen sein kann, denn
über uns sah man die Sterne. Ich weiß nicht, was dort unten mit uns geschehen ist. Es ist, als würde ich sogar noch mehr vergessen, je mehr ich versuche, mich daran zu erinnern. Aber ganz gleich, was auch geschah, irgendwie habe ich es wieder nach oben geschafft, allein. Ich habe keine Ahnung, ob Jay gefunden hat, wonach er suchte, oder ob er dort jemals wieder herausgekommen ist …« B. sah verwirrt aus, vielleicht hatte er sogar ein bisschen Angst.
Marla war ungefähr eine Million mal mehr beeindruckt von B. als noch kurz zuvor. »Sie haben da an etwas Altes und Mächtiges gerührt«, sagte sie. »Der Stoff, aus dem Mythen gemacht werden. Machen Sie sich keine Sorgen darüber, dass Ihr Gedächtnis Sie im Stich zu lassen scheint. So ist das Göttliche nun mal, es entzieht sich der genauen Analyse. Sie können es ausschmücken, Details erfinden, eine Liebesgeschichte dazudichten und das Ganze mit ein bisschen Spannung würzen, vielleicht auch sich selbst zum Helden hochstilisieren - genau so werden Mythen erschaffen -, aber einen genauen und wahrheitsgetreuen Bericht abzuliefern, ist schlichtweg unmöglich, selbst für jemanden, der so klar sieht wie Sie.« Marla war sich immer sicherer, dass B. mehr, vielleicht viel mehr war als ein Mann, der das Glück gehabt hatte, mit einer seherischen Begabung geboren worden zu sein. Sie konnte es zwar nicht beschwören - manche Menschen stolperten nur zufällig über das Göttliche, das war die Natur des wahrhaft Unvorhersehbaren -, aber manche Menschen, genau genommen so wenige, dass sie statistisch gesehen gar nicht existierten, zogen das Göttliche an. Oder, wie manche Magier vermuteten, sie erzeugten mit ihren bloßen Handlungen und Bewegungen unbegreifliche Mysterien, so wie ein normaler Mensch statische Ladung erzeugen
kann, indem er mit Gummisohlen über einen Kunststoffboden geht. Falls B. zu dieser Gruppe gehörte, wenn er ein Orakel-Erzeuger war, hatte er Glück, noch am Leben und bei relativer geistiger Gesundheit zu sein. Mächtige Zauber hatten immer eine Rückwirkung auf die Menschen, und B.’s Unwissenheit schien ihn die meiste Zeit davor beschützt zu haben.
»Ja«, sagte B., »das klingt einleuchtend. Solange ich nur daran denke, ist alles ganz klar, aber sobald ich versuche, es in Worte zu fassen, verschwimmt es. Jedenfalls, anscheinend habe ich Angst, diesen Knochenzug wieder zu sehen. Ich habe das Gefühl, dass mir bestimmt war, nur einmal mit ihm zu fahren, und wenn ich jetzt noch einmal einsteige, weiß ich nicht, was geschehen wird. Nichts Gutes, wie mir scheint.«
Genau in diesem Moment ertönte das unverwechselbare Geräusch eines herannahenden Zuges, das Rattern und Pfeifen, der Lärm, den die Luft macht, wenn sie von einer dahinrasenden Wand durch den Tunnel geschoben wird. Rondeau stellte sich direkt neben B. und gab ihm durch seine bloße Anwesenheit ein wenig Sicherheit. Marla trat an B.’s andere Seite.
»Wenn das derselbe Zug ist, müssen Sie nicht einsteigen«, sagte Marla. »Ich würde so etwas nicht von Ihnen verlangen. Aber ich glaube nicht, dass das der Knochenzug ist. Wenn Bethany einen Zug in die Unterwelt - in irgendeine der unteren Welten - zur Verfügung hätte, würde sie nicht erst warten, bis sie an der Reihe ist, San Francisco zu regieren. Wenn sie einen derart leichten Zugang zum Land der Toten hätte, wäre sie schon viel mächtiger.«
»Ich hoffe, Sie haben recht«, sagte B. kaum hörbar.
Der Zug kam aus dem Tunnel geschossen, und schon beim ersten Anblick entspannte sich B. sichtlich. Dies war nicht der Oberschenkelknochen eines Riesen, sondern ein Hightechzug wie aus der Fantasie eines Technikfetischisten entsprungen: glänzend schwarzes Metall, verziert mit schimmerndem Silber und spiegelndem Chrom, mit einem konventionellen Antrieb, mehreren Waggons und getönten Scheiben, die an seiner Seite glänzten. Marla dachte wieder daran, dass Bethany wahrscheinlich eine Schöpferin war. Sie selbst scherte sich nicht um äußere Erscheinungsformen, lebte glücklich und zufrieden in einem verfallenden,
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