Hexer-Edition 03: Das Haus am Ende der Zeit
hielten. Die Stöße übertrugen sich über die Deichsel auf den Wagen und ließen die zerbrechliche Konstruktion ächzen; aber der Wagen saß unverrückbar fest im Schlamm und selbst die Kraft von zehn Pferden hätte nicht gereicht, ihn von der Stelle zu bewegen.
Dafür bewegte sich das Ding auf seiner Ladefläche.
Es war kein Tier, auch keine Pflanze oder irgendetwas anderes Identifizierbares, sondern im Grunde nur eine amorphe, graue Masse; ein wabbeliger Berg aus graugrünem, übelriechendem Schleim wie eine übergroße Amöbe, ohne sichtbare Sinnesorgane oder Glieder. Während der letzten Stunden war es gewachsen, langsam, aber stetig, hatte Norris’ Körper verzehrt, seine Kleider, dann die leeren Säcke, die auf dem Wagen gelegen hatten, die Bastkörbe und sogar einen Teil der Holzplanken, aus denen das Gefährt zusammengesetzt worden war. Jetzt hatte es alles organische Material in seiner unmittelbaren Umgebung verschlungen, und sein Wachstum war zum Stillstand gekommen.
Trotzdem war es noch hungrig und es spürte die Nähe des Pferdes, obgleich es weder über Augen noch Geruchs- oder Gehörsinn verfügte. Der Wagen bebte unter den verzweifelten Stößen, mit denen sich das Pferd gegen sein Geschirr warf, und die Stöße übertrugen sich auf den knochenlosen Körper des Dinges.
Langsam begann es sich zu bewegen. Mühsam, wie eine übergroße nackte Schnecke eine glitzernde Schleimspur hinter sich herziehend, glitt es zum hinteren Ende der Ladefläche, quoll über die Planken und tropfte in langen, zähen Bahnen auf den aufgeweichten Boden hinab. Der Vorgang dauerte lange; zehn, fünfzehn, vielleicht zwanzig Minuten und als er beendet war, hockte das Ding wie ein meterhoher Berg aus grauem Pudding auf dem Waldweg. Es verharrte eine Weile, als müsse es Kraft schöpfen, dann bewegte es sich wieder: dünne Schleimfäden krochen wie tastende Finger dahin und dorthin, berührten Grashalme und Unkraut, suchten, fühlten, zogen sich zurück oder hoben sich ein Stück in die Luft, als nähmen sie Witterung auf. Dann, ganz langsam, setzte sich die Masse in Bewegung, nach vorne, vorbei an dem halb im Schlamm versunkenen Rad und dem rechten, leeren Geschirr, auf das Pferd zu.
Das Tier begann zu toben, als das graue Etwas in seinem Gesichtsfeld erschien. Mit einem verzweifelten Kreischen bäumte es sich auf, schrie seine Angst in die Abenddämmerung hinaus und schlug mit den Vorderhufen.
Das graue Ding kam näher. Dort, wo es entlanggekrochen war, war der Boden nackt und kahl. Gras und alle anderen organischen Materialien waren verschwunden, zu einem Teil der kriechenden grauen Substanz geworden, aber es war zu wenig, um den unersättlichen Hunger der Masse zu stillen.
Kurz bevor es das Pferd erreichte, hielt das Ding inne. Das Tier begann vollends zu toben, als der stechende Geruch der amöbenartigen Masse in seine Nüstern drang, stieg auf die Hinterläufe und schlug verzweifelt mit den Vorderhufen nach dem bizarren Angreifer.
Aber nur ein einziges Mal.
Seine Bewegungen erlahmten, kaum, dass seine Hufe die Masse berührt hatten. Ein rasches, krampfartiges Zittern lief durch seinen Leib; der Ausdruck in seinen Augen wechselte von animalischer Furcht zu dumpfer Resignation, seine Angstschreie verstummten.
Es ging ganz schnell. Die graue Masse kroch an seinen Beinen empor, erreichte seinen Leib und begann ihn zu verschlingen. Das Tier starb schnell und schmerzlos. Die Zellen seines Körpers wurden absorbiert, umgewandelt und zu etwas Fremdem, Unnatürlichem geformt, ihre DNS aufgebrochen und verändert, der Code des Lebens in seinen Genen zu etwas Neuem und Furchtbarem umgebaut. Schon nach wenigen Augenblicken war keine Spur des Tieres mehr zu sehen. Nur die graue Masse war größer geworden, kein Fladen jetzt mehr, sondern ein mächtiger, zitternder Berg von der stumpfen Farbe geschmolzenen und wieder erstarrten Bleis. Dann hörten auch seine Bewegungen auf.
Lange Zeit geschah nichts. Das graue Ding lag still da, vollkommen reglos, wie tot. Die Stunden reihten sich aneinander, und der Tag wich der Abenddämmerung.
Erst als sich die Sonne langsam dem Horizont näherte, bewegte sich das graue Etwas wieder. Es begann zu zittern, sank, als wäre es plötzlich seines inneren Haltes beraubt worden, auseinander und bildete einen flachen, mehr als zehn Meter durchmessenden Fladen.
Dann begann es sich zu teilen.
Wie bei einer ins Gigantische vergrößerten Zelle zog sich sein Leib in der Mitte zusammen, schnürte
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