Hexer-Edition 06: Die Chrono-Vampire
unbestimmtes Gefühl hielt mich davon ab, sofort nach dem Schiffer Nies zu fragen. Ich stieg zu einem Steg hinab, an dem einige nicht besonders Vertrauen erweckende Bootsleute herumlungerten, wartete, bis sie mit ihrer stummen Musterung fertig waren, und forderte dann einen von ihnen auf, mich zur Van Dengsterstraat zu bringen.
Er erbleichte, sah mich einen Herzschlag lang wie einen Verrückten an, spie wortlos seinen Priem ins Wasser der Gracht, sprang in seinen Kahn und ruderte wortlos davon.
Der nächste Schiffer, den ich fragte, machte erschrocken das Kreuzzeichen.
Dem Dritten, der gerade anlegte, fielen vor Schreck die Riemen aus der Hand.
Und so weiter.
Nies sah aus wie ein alter Pirat, dem es auf das eine oder andere Menschenleben nicht ankommt. Sein Gesicht war eine Ruinenlandschaft aus Narben und tiefen, von Salzwasser und Wind eingegrabenen Linien, und der Blick seiner eng beieinander stehenden, trüben Augen ließ mich innerlich frösteln.
Trotzdem wurde auch er kreidebleich, als ich ihm mein Fahrziel nannte. Erst nach einem tüchtigen Schluck aus dem Geneverkrug, den er unter seiner Sitzbank stehen hatte, fasste er sich wieder soweit, dass er »Macht zehn Gulden« murmeln konnte.
Für einen Moment wusste ich nicht, ob ich aus der Haut fahren oder ihn schlichtweg auslachen sollte. »Wie bitte?«, fragte ich. »Sagten Sie – zehn Gulden, Mijnheer? Bei allem Verständnis, aber dafür kann ich ja Ihren Kahn kaufen.«
»Sie können ja wieder aussteigen!«, antwortete er mit einer Stimme, der ich anmerkte, dass ihm das wirklich am liebsten gewesen wäre. »Vielleicht schwimmen Sie lieber hin. Oder Sie zahlen fünfzehn Gulden.«
Ich ächzte. »Fünfzehn? Gerade waren es noch zehn!«, begehrte ich auf.
Nies schüttelte mit steinerner Miene den Kopf. »Sie irren sich, Mijnheer. Gerade waren es zwanzig. Jetzt sind es fünfundzwanzig.«
Ich starrte ihn an, schluckte die Bemerkung, die mir auf der Zunge lag, herunter, und beeilte mich, zustimmend zu nicken und ihm zuzulächeln, als hätte er mir eine Freude gemacht – ehe sein Preis eine Höhe erreicht hatte, für den ich die komplette Van Dengsterstraat kaufen konnte. Eine unbestimmte Ahnung sagte mir, dass ich selbst für die zehnfache Summe keinen zweiten Bootsmann finden würde, der mich zur Van Dengsterstraat fahren würde.
»Abgemacht«, murmelte ich.
Nies sah mich mit zusammengekniffenen Lidern an, musterte mich noch einen Herzschlag lang mit gierigem Blick, dann löste er die Kette, mit der der Kahn am Ufer befestigt war, und lenkte ihn mit gemächlichen Ruderschlägen in die Gracht hinaus.
Das Boot gefiel mir noch weniger als sein Besitzer, so alt und morsch war es. Verfaultes Bilgenwasser schwappte auf seinem Boden hin und her und spritzte auf meinen Mantel. Ein Tropfen streifte meine Wange. Ich wischte angewidert mein Gesicht ab und sah dann auf die Gracht hinaus. Der Dreck, der am Ufer lag, die verrotteten Fischerkähne und schmierigen Hausboote rechts und links und der Gestank, der vom Wasser hochstieg, zeigten deutlich, dass wir in kein sehr vornehmes Viertel dieser Stadt hineinfuhren. Trotzdem hätte ich nicht so angeekelt sein dürfen. Es war eine Gegend wie diese, in der ich aufgewachsen war und die meisten Jahre meiner Jugend verbracht hatte. Und es war noch nicht einmal sehr lange her …
Wir kamen an einigen halb verfallenen Häusern vorbei und bogen schließlich in eine schmale Gracht ein, die auf beiden Seiten von hohen, grauen Mauern eingeschlossen war. Ich fühlte eine seltsame Anspannung, die jedoch nicht aus mir selbst kam, sondern irgendwie von diesen Wänden ausging. Häuser können im Laufe der Zeit Eigenleben entwickeln, ähnlich wie alte Bäume und gewisse Landschaften. Doch das, was ich hier wahrzunehmen glaubte, ging weit über jedes normale Maß hinaus und es bedeutete nichts Gutes. Für einen Moment verglich ich das Gefühl mit dem finsteren Hauch, der das Haus meines Vaters am Ashton Place in London umgab, den Odem der Magie und verbotenen Macht, der sich in seinen uralten Mauern eingenistet hatte.
Aber der Vergleich stimmte nicht. Das hier war etwas anderes. Etwas ganz anderes.
Ich roch förmlich das Böse hinter dem Moder, der aus den schief in den Angeln hängenden Fenstern herauswehte, den unsichtbaren Griff dunkler, dräuender Mächte, als blickten die glaslosen Fensterrahmen beiderseits der Gracht wie erloschene Augen auf den Fremden herab, der sich in ihren Machtbereich verirrt hatte. Unwillkürlich
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