Hexer-Edition 09: Dagon - Gott aus der Tiefe
mit Ihnen reden!«, schrie er. »Mit Ihnen selbst! Kommen Sie her! Ich will, dass Sie mir in die Augen sehen, wenn Sie mir sagen, dass Sie meinen Bruder aus Notwehr getötet haben!«
Nemo seufzte. »Das ist im Augenblick leider nicht möglich, mein Freund«, sagte er bedauernd. »Ich befinde mich mehrere Dutzend Seemeilen von Ihrem Standort entfernt, müssen Sie wissen, und -«
»Lüge!«, kreischte Spears. »Das alles ist nichts als ein übler Trick. Sie wollen mich beeindrucken, um von der Tatsache abzulenken, dass Sie ein Mörder sind.«
Nemo schüttelte den Kopf und antwortete mit seiner sanften, noch immer geduldig klingenden Stimme, aber Spears hörte gar nicht mehr hin. Plötzlich war alles ganz klar. Er wusste sehr wohl, dass es unmöglich war, über eine Distanz von mehreren Dutzend Meilen mit einem Menschen zu sprechen. Wie hatte er jemals auf diesen billigen Jahrmarktstrick hereinfallen können – ein gebogener Spiegel, der von einer Seite durchsichtig war und das Bild des dahinter Stehenden vergrößerte, ein paar geschickt aufgestellte Lampen, die dem Ganzen einen unheimlichen Effekt gaben. Für wie leicht zu beeindrucken hielt ihn Nemo!?
»Sie verdammter Mörder!«, brüllte er. »Aber Sie entkommen mir nicht. Jetzt bezahlen Sie!« Damit wirbelte er herum, riss den Tisch in die Höhe und schleuderte ihn mit aller Macht gegen den Spiegel. Nemos gellender Schrei ging im Bersten und Splittern von Glas unter.
Ein greller Blitz blendete Spears. Der Spiegel zerbarst, aber dahinter kam kein verstecktes Kabinett zum Vorschein, sondern ein kaum handtiefer Hohlraum voller bunter Leitungen und Drähtchen, dazwischen gläserne Röhren und eine Unzahl unverständlicher technischer Dinge.
Dann zuckte ein zweiter Blitz auf, tauchte die Kammer in blauweißes, flackerndes Licht und zerfetzte die metallenen Eingeweide des Spiegels. Spears prallte mit einem überraschten Schrei zurück, als ein Hagel von Glassplittern auf ihn niederprasselte. Das Licht flackerte, ging aus und gleich darauf wieder an.
Und im gleichen Moment glitt die Tür zur Seite.
Spears überlegte nicht mehr. Wie von Sinnen fuhr er herum, duckte sich unter den zupackenden Klauen des Riesen weg, der hereingestürzt kam, um seinem Toben ein Ende zu bereiten, und versetzte ihm einen Stoß vor die Brust. Der Mann taumelte, kämpfte einen Moment mit wild rudernden Armen um sein Gleichgewicht – und fiel mit einem erstickten Schrei in den zerborstenen Rahmen hinein.
Seine Hände berührten eines der glänzenden Kupferkabel, die wie metallene Gedärme aus dem Spiegel gequollen waren.
Ein grelles, unheimliches Licht glomm plötzlich auf. Spears hörte ein Zischen, und mit einem Male verzerrte sich das Gesicht des Mannes vor Schmerz. Sein Körper zuckte wie unter dem Hieb einer unsichtbaren Peitsche. Winzige, blau glühende Flämmchen rasten seine Hand und den Arm hinauf. Er schrie, versuchte sich zurückzuwerfen und die Hand von dem Kabel zu lösen, aber seine Finger schienen an dem glänzenden Metall festzukleben.
Dann zerriss ein neuerlicher, noch grellerer Blitz die zerstörten Innereien des Spiegels vollends und wieder erlosch das Licht.
Diesmal dauerte es mehrere Sekunden, ehe es wieder aufleuchtete.
Aber da war Spears schon nicht mehr im Zimmer.
Ich versuchte aufzustehen, aber es klappte nicht gleich. Der einzige Gedanke, der mir überhaupt noch die Kraft gab, mich hochzustemmen, war der, dass unter Umständen mein Leben davon abhängen mochte, vor der dunkelhaarigen Frau auf die Beine zu kommen, die neben mir im Gras lag.
Ich erinnerte mich kaum, sie niedergeschlagen zu haben. Ich hatte für Augenblicke das Bewusstsein verloren, nach ihrem heimtückischen Kniestoß, aber meine antrainierten Reflexe hatten mich im letzten Moment noch zurückschlagen lassen.
Wäre es nicht so, dachte ich mit einer Mischung aus Erleichterung und mühsam zurückgehaltenem Zorn, dann würde ich wohl jetzt mit durchschnittener Kehle hier liegen; vielleicht auch schon hundert Fuß tiefer auf den tödlichen Felsriffen vor der Küste.
Vorsichtig stand ich auf, atmete ein paarmal tief und gezwungen ruhig durch und ließ mich dann neben der Bewusstlosen abermals auf die Knie sinken.
Behutsam drehte ich sie auf den Rücken und betrachtete ihr Gesicht im schwachen Licht des Mondes. Es war ein schmales, sehr gepflegtes Gesicht, das Gesicht einer Frau Mitte Vierzig, dessen beinahe aristokratischer Schnitt nicht so recht zu dem groben Sackleinenkleid passen
Weitere Kostenlose Bücher