Hexer-Edition 11: Der achtarmige Tod
zu treiben begannen, ungeachtet der Tatsache, dass viele von ihnen verletzt waren und sich kaum auf den Beinen halten konnten. Der Anblick berührte mich nicht mehr. Shannon hatte wohl Recht, es ging hier um viel mehr, als dass ich mich um das Schicksal von wenigen Menschen kümmern konnte. Vielleicht stand das Schicksal der ganzen menschlichen Rasse auf dem Spiel.
Das furchtbare Geschehen dauerte fast eine halbe Stunde, dann schloss sich der riesige fette Balg wieder. Die Tentakel krochen in den Leib des Scheusals zurück und plötzlich begann es sich aufzuplustern wie ein gigantischer lebender Blasebalg. Zuckend, mit spasmischen, nur scheinbar ziellosen Bewegungen, begann es ins Meer zurückzukriechen, nein, zu fließen, wobei es eine breite, glitzernde Spur aus Schleim auf dem Strand zurückließ.
Auch der Zug der Verlorenen vor uns war beinahe beendet. Ich schätzte, dass es an die siebzig Männer und Frauen gewesen sein mussten, die im Leib des Vulkanes verschwunden waren. Jetzt waren es nur noch wenige: drei, vielleicht vier, die von einer kleinen Gruppe von Dagons Kreaturen auf den Höhleneingang zugetrieben wurden.
Plötzlich strauchelte eine der gebückt gehenden Gestalten, stürzte in den Sand und wälzte sich auf den Rücken. Sein Bewacher stieß ein wütendes Knurren aus und schwang seine Peitsche.
Er kam nicht dazu, zuzuschlagen.
Mit einem Male wirbelte einer der anderen Gefangenen herum, entriss ihm die Peitsche und schlug ihm den hölzernen Stiel ins Gesicht. Der Bursche brüllte, schlug beide Hände vor den Mund und fiel auf den Rücken.
Eine Sekunde später fielen die drei übrigen Wächter gemeinsam über den widerspenstigen Gefangenen her. Der Kampf währte nur Sekunden. Der Bursche wehrte sich tapfer, aber gegen die Wächter hatte er keine Chance. Er stürzte, krümmte sich im Sand und versuchte, das Gesicht mit den Armen zu decken. Für eine Sekunde geriet sein Gesicht ins helle Mondlicht und ich erkannte ihn trotz der großen Entfernung.
Es war Yo Mai.
Der Anblick ließ irgendetwas in mir zerbrechen. Es war ein Gefühl, als würde eine Stahlfeder irgendwo in mir bis zum Zerreißen gespannt – und mit einem Ruck losgelassen.
Ich keuchte, fiel zur Seite und kämpfte eine Sekunde lang gegen den immer schlimmer werdenden Schwindel, der plötzlich hinter meiner Stirn wühlte. Shannon beugte sich über mich und versuchte mich hochzuheben.
Ich schlug seine Hand beiseite, ballte die Faust und holte aus, schlug aber nicht zu. Aber mein Blick sprühte vor Zorn.
»Rühr mich nicht an!«, keuchte ich. »Rühr mich nie wieder an, Shannon!«
Einen Moment lang wurde Shannons Blick hart und ich wappnete mich instinktiv gegen einen neuerlichen hypnotischen Angriff. Aber er kam nicht. Stattdessen senkte Shannon beinahe betreten den Blick und seufzte hörbar.
»Es tut mir Leid, Robert«, sagte er leise. »Aber ich musste es tun. Du … du hättest alles verdorben.«
Ich starrte ihn an, für Sekunden derart gelähmt vor Entsetzen und Unglauben, dass ich nicht einmal einen klaren Gedanken fassen konnte, geschweige denn antworten.
»Tu das nie wieder, Shannon«, sagte ich. »Niemals.«
Shannon sah auf. In seinem Blick stand ein vager Ausdruck von Trauer. Aber auch von Trotz und Zorn. »Ich musste es tun«, verteidigte er sich. »Was hättest du denn gemacht? Wolltest du allein gegen fünfzig von Dagons Kreaturen kämpfen? Du hättest uns umgebracht, du Narr!«
Er hatte Recht, aber das war es nicht, warum ich am liebsten geschrien hätte. Und Shannon wusste das.
»Du hast mich hypnotisiert«, sagte ich zornig. »Du hast mich dazu gebracht, über Menschen wie über Spielfiguren zu denken, Shannon.« Ich deutete zornig auf die Höhle, in der die Majundes verschwunden waren. »Du hast mich gezwungen, sie wie Dinge zu betrachten, Shannon, und das verzeihe ich dir nie. Tu es nie wieder, hörst du? Nie! Wenn du es noch einmal tust, dann töte ich dich.«
Shannon blickte mich an, schüttelte ein paarmal den Kopf und seufzte, war aber klug genug, nicht direkt auf meine Worte zu reagieren. Er musste wohl spüren, dass mich die Erregung Dinge sagen ließ, die ich vielleicht unter anderen Umständen nicht gesagt hätte.
Aber nicht einmal dessen war ich mir vollkommen sicher …
Ich stand vollends auf, blickte mich rasch nach beiden Seiten um und begann, noch immer im Schutze der Felsen, auf die Höhle zuzuhuschen. Ich sah nicht einmal zurück, um mich davon zu überzeugen, ob Shannon mir folgte oder nicht.
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