Hexer-Edition 13: Ein Gigant erwacht
die rund um den Zeremonienplatz hockten und ihren Häuptling mit Gebeten stärkten, nahmen die Bewegung auf, wiegten die Oberkörper im Takt des Tanzes oder nickten den monotonen Rhythmus mit geschlossenen Augen.
Der Schatten der Pappel im Zentrum des Platzes wanderte wie der Zeiger einer riesigen Sonnenuhr und zog seine Bahn über die gebrannte Erde, während Sitting Bull tanzte; Stunden um Stunden um Stunden. Und noch immer hielt sich der völlig entkräftete Mann aufrecht. Allein die Kraft der Magie, derer sich Sitting Bull bediente, erhielt ihn am Leben.
Der Abend brach an und die Sonne am Horizont färbte sich rot. Ihr erlöschendes Licht tauchte die Tipis in ein Meer aus Blut. Und immer noch tanzte Sitting Bull. Längst verspürte er die Schmerzen nicht mehr, die durch seine Arme und seinen Rücken pulsten. Sein Geist hatte den Körper verlassen, vor Stunden schon, schwebte durch ein Reich, in dem es keinen Tod gab und kein Leben, auf der Suche nach Wakan Tanka, seinem Gott.
Und auch die Nacht sah Sitting Bull tanzen. Ohne Wasser oder Nahrung zu sich zu nehmen, bewegte sich der Häuptling der Sioux nach dem Takt des Götterliedes. Über dreißig Stunden lang.
Dann, die Sonne stand wieder im Zenit und brannte unbarmherzig auf die kleine Siedlung herab, brach Sitting Bull zusammen.
Der Sonnentanz war zu Ende.
Er hatte Wakan Tanka gefunden …
»Ich nehme dein Opfer an.« Die Stimme des Gottes dröhnte in Sitting Bulls Ohren. Es war eine Stimme ohne Körper und sie entstand direkt in seinem Kopf.
Der Häuptling neigte demütig das Haupt. Es war nicht das erste Mal, dass er Wakan Tanka um Beistand bat, doch selten zuvor war es mit dem Ritual des Sonnentanzes geschehen. Und diesmal hing von der Antwort des Sonnengottes ungleich mehr ab als eine gute Jagd oder eine reiche Ernte.
Vielleicht das Schicksal seines ganzen Volkes …
»Ich sehe, dass große Sorgen dein Herz umfangen«, fuhr die mächtige Stimme fort. »Und du hast dein Leben gewagt, um meinen Ratschlag zu erbitten, Häuptling der Sioux. Ich will deinen Wunsch erfüllen.«
Sitting Bull richtete sich auf und starrte in die Nebel, die ihn umgaben. Lichter brannten dahinter, wie in weiter Ferne, und große, verzerrte Schatten huschten durch die undurchdringlichen Schwaden und begannen ihn zu umkreisen.
Für einen Moment war das Herz des Indianers voller Angst. Dies war die Welt der Ahnen und die Götter waren launisch. Sein Leben galt hier nicht mehr als die Flamme einer Kerze im Wind. Ein böser Hauch nur, von einem missgünstigen Gott geschickt, und er würde sterben.
Doch als Wakan Tanka nicht weiter sprach, entsann er sich dem Grunde seines Kommens.
»Mächtiger Gott der Sonne und des Lebens«, begann er die rituelle Ansprache. »Beschützer unseres Blutes und Bewahrer unserer Jagdgründe. Der weiße Mann, der uns betrogen hat, seit er in unser Land eindrang, bewaffnet sich. Mit seinen Armeen mordet er die Krieger, Frauen und Kinder der Sioux, Cheyenne und Arapaho. Er will uns zwingen, das Land unserer Ahnen zu verlassen und das Leben in Freiheit gegen ewige Gefangenschaft einzutauschen. Höre durch mich die Klagen deiner Söhne und Töchter, Großer Gott der Sonne. Sage uns, ob wir siegreich gegen den weißen Mann bestehen werden, wenn ich die Krieger aller Stämme vereine.«
Lange Zeit schwieg der Gott. Die Nebel um Sitting Bull verdunkelten sich, begannen zu tanzen und griffen wie mit dürren Spinnenfingern nach ihm. Die Schatten wogten schneller und strömten zusammen, um Körper zu bilden. Mannsgroße Körper, die jenseits der Nebelwand hin und her huschten, niemals wirklich zu erkennen und doch so greifbar nah.
Dann klang wieder die Stimme auf und Sitting Bull löste fast erleichtert seinen Blick von den dunklen Schemen.
»Du bist ein großer Krieger, Ta-tan-ka I-yota-ke«, dröhnte der Gott, »tapfer und voller Weisheit. Ich will dir eine Antwort geben.«
Plötzlich riss die Nebelwand auf. Tipis aus Büffelhaut schälten sich aus dem Dunst, Feuerstellen und ein Pferdegatter. Die Tiere wieherten nervös und bäumten sich immer wieder auf. Indianer vom Stamm der Sioux liefen voller Hast zwischen den Zelten, bewaffnet mit Bögen und Speeren, aber ohne die erbeuteten Gewehre der Weißen.
Es dauerte einige Sekunden, bis Sitting Bull das Dorf erkannte. Es war sein eigenes Sommerlager! War er zurück aus der Welt der Götter, ohne die Antwort erhalten zu haben?
Dann begriff er. Wakan Tanka sprach in Bildern. Was er sah, war die
Weitere Kostenlose Bücher