Hexer-Edition 13: Ein Gigant erwacht
konnte ich die braun umrandeten Abdrücke schlanker Finger erkennen. Finger, die sich mit furchtbarer Kraft um meinen Arm geschlossen haben mussten.
Nur – ich erinnerte mich nicht daran …
»Stimmt etwas nicht?« Eine leise, besorgt klingende Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Shadow war neben mir aufgetaucht, kniete nieder und wischte sich eine Strähne ihres langen Haares aus der Stirn. Sie hatte ihre geflügelte Engelsgestalt abgelegt und einen menschlichen Körper angenommen. Hastig streifte ich den Ärmel über die hässliche Quetschung und verzog die Lippen zu einem gequälten Lächeln. Ich wusste nicht, was geschehen war, aber bis ich es herausgefunden hatte, wollte ich sie nicht unnötig ängstigen.
Mein Lächeln konnte nicht sehr überzeugend gewesen sein, denn Shadow blickte mich tadelnd an und griff dann energisch nach meinem Arm. Als sie die Male erblickte, sog sie scharf die Luft zwischen die Zähne.
»Was ist passiert?«, fragte sie nach einer Weile, als klar wurde, dass ich nicht von selbst sprechen würde.
Ich zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Wirklich, Shadow. Gestern Abend noch war meine Hand vollkommen in Ordnung. Und jetzt …«
»Du erinnerst dich nicht?« Shadow verzog ungläubig die Brauen. »So eine Verletzung –«
»- kommt nicht einfach über Nacht, das weiß ich selbst«, unterbrach ich sie; energischer, als ich es eigentlich wollte. Aber irgendetwas war mit mir geschehen, während ich schlief, und es machte mich rasend, dass ich keine Ahnung hatte, was es war. Noch einmal lauschte ich in mich hinein und wieder entglitt mir die Erinnerung an den Traum, noch ehe ich sie greifen konnte.
Shadow starrte mich wütend an, ließ meine Hand einfach fallen und richtete sich wieder auf. »Entschuldige«, sagte sie nur, wandte sich mit wehender Mähne um und schritt zur Feuerstelle hinüber, wo sich Bill und Annie bemühten, ein Feuer zu entfachen. Ich sah ihr nach, wütend über mich selbst und meine Unbeherrschtheit. Dieser Morgen fing ja gut an!
Während ich mich mit steifen Gliedern in die Höhe quälte, suchte ich bereits nach einer Entschuldigung, um mich mit Shadow zu versöhnen. Längst schon war mir klar geworden, dass meine Gefühle zu ihr mehr, viel mehr waren als reine Freundschaft.
Ich liebte sie. Ich wusste es jetzt mit aller Deutlichkeit, seit dem Moment, als wir uns im Berg der Weißen Götter wiedergefunden hatten. Und jeder Missklang zwischen uns schmerzte mich in der Tiefe meines Herzens.
Ich sah, wie sie an das erloschene Feuer trat, Annie mit einem Lächeln beiseite schob und eine rasche, komplizierte Geste mit der Hand vollführte. Eine Stichflamme schoss aus dem taufeuchten Holz, sprang von Span zu Span und nach wenigen Sekunden brannte das Feuer lichterloh.
Shadow wandte sich zu mir um, und ein schelmisches Lächeln flog über ihr engelsgleiches Antlitz. Ich grinste zurück, klopfte den Sand aus meinen Kleidern und wollte zu ihr hinübergehen, als meine Finger etwas Kaltes, Metallisches berührten. Ich hielt inne, tastete nochmals über meinen Gürtel und zog das Ding hervor.
Es war Sitting Bulls Dolch.
Und er war zerbrochen!
Die Erinnerung traf mich mit solcher Wucht, dass mir für einen Moment schwarz vor Augen wurde und ich haltlos zurückwankte.
Als ich zu fallen drohte, waren Shadow und Bill schon heran und stützten mich. Ich hörte ihre besorgten Stimmen, aber ich verstand den Sinn der Worte nicht. Es war, als hätte sich ein wattiger, finsterer Nebel um mein Gehirn gelegt und versuchte nun, meine Gedanken zu ersticken. Wieder wollte mir der Traum entgleiten wie ein lebendes Ding, aber diesmal hielt ich ihn fest; beinahe gegen meinen eigenen Willen. Das Blut rauschte mir in den Ohren und vor meinem inneren Auge lief die furchtbare Vision der Nacht noch einmal ab, in all ihrer erschreckenden Klarheit.
Und gleichzeitig begann sich ein Gedanke in mein Bewusstsein zu drängen, der noch schrecklicher war als die Erinnerung an den Traum selbst.
Der Gedanke, dass es kein Traum gewesen sein konnte, sondern eine furchtbare, fremde Form der Realität. Wie konnte mein Arm durch einen Traum verletzt werden, wie ein Dolch durch eine Vision zerbrechen?
Aber waren dann nicht auch all diese anderen, grauenvollen Albträume …
Plötzlich erklang ein schrilles, hysterisches Lachen und erst als etwas mit schmerzhafter Wucht mein Gesicht traf, erkannte ich, dass es meine Stimme war. Für Sekunden – oder Ewigkeiten – balancierte mein Geist noch auf dem
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