Hexer-Edition 15: Der Koloss von New York
aller Überleben sein sollte. Als er endlich sprach, klang seine Stimme wie die eines Toten.
»Ihr habt das gewusst, nicht?«, flüsterte er. Die Worte galten den vier Schreckensgestalten, aber er sah sie nicht an. Er sah überhaupt nichts an. Sein Blick ging ins Leere. »Ihr habt alles gewusst. Ihr habt gewusst, wie er sich entscheiden würde. Das Leben des einzigen Menschen, den er liebt, gegen das von dreißig Unschuldigen.« Er stöhnte. »Die gleiche Wahl, vor die ihr mich gestellt habt.«
»Aber er hat anders entschieden, Bruder«, kicherte der Unheimliche hinter mir. »Seine Wahl war richtig. Er hat sich für den Schmerz entschieden. Du für die Schuld.«
Balestrano atmete hörbar ein. »Tötet … ihn nicht«, flüsterte er. »Ich flehe euch an, verschont ihn und die anderen. Sie sind unschuldig.«
»Das ist ja gerade das Lustige«, kicherte der Dämon. »Nein, nein, das Geschäft gilt. Es sei denn, du bietest uns etwas.«
Balestrano nickte. Sein Gesicht war starr. »Der Schmerz oder die Schuld«, wiederholte er die Worte des entsetzlichen Wesens. »O mein Gott, was habe ich getan?« Er stand auf, blickte einen Moment auf Priscylla und mich herab und atmete abermals hörbar ein. »Ich habe mich entschieden«, sagte er dann. »Verschont ihre Leben.«
»Und was bietest du uns dafür, Bruder?«, fragte das grauenhafte Wesen. Seine Hände bewegten sich gierig.
»Mich«, sagte Balestrano mit fester Stimme. »Ihr habt erreicht, was ihr wolltet, Brüder. Ich … ich bin bereit. Nehmt mich.«
Und sie nahmen ihn.
Es war sehr dunkel. O’Connellys Karbidlampe warf einen schwankenden Kreis blasser Helligkeit auf das Kopfsteinpflaster, aber alles, was jenseits der flackernden Grenze lag, die im gleichen Tempo vorrückte wie der fast siebzigjährige Ire, schien dafür doppelt dunkel. Dabei, dachte O’Connelly missmutig, hätte es eigentlich recht hell sein müssen, denn wenn er dem Kalender – und dem Nörgeln seiner Frau, die in Vollmondnächten noch empfindlicher und grantiger wurde, als sie ohnehin schon war – glauben konnte, dann war Vollmond; und O’Connelly hatte keinen einzigen vernünftigen Grund, an einem von beiden zu zweifeln.
Was nichts daran änderte, dass es stockfinster war. Und das, obgleich sich am Himmel nicht die kleinste Wolke zeigte.
O’Connelly blieb stehen, setzte die Karbidlampe vorsichtig auf einen Mauervorsprung, rieb die Hände dicht vor dem Gesicht aneinander und blies hinein. Es war kalt, der Jahreszeit zum Trotz, und seine Finger waren klamm und taten ein wenig weh; aber das taten sie in letzter Zeit eigentlich immer. Die Gicht hatte ihn nach siebzig Jahren nun doch eingeholt und gönnte ihm schon jetzt einen kleinen Vorgeschmack auf das, was er in den letzten Jahren seines Lebens zu erwarten hatte.
Irgendwo auf der anderen Seite der massigen Reihe geduckter schwarzer Schatten, zu denen die Lagerschuppen in der Nacht zusammengeschmolzen waren, erscholl der klagende Ruf eines Nebelhorns, kurz darauf antwortete ein gleichartiger, aber sehr viel leiserer Laut vom offenen Meer her auf das Geräusch und noch bevor es verklang, begann irgendwo in der Stadt eine Glocke zu schlagen. Eins … zwei … drei … O’Connelly zählte die Schläge aufmerksam mit, obwohl er erst vor einer halben Stunde auf seine Taschenuhr geblickt hatte und auch ohne sie ziemlich genau gewusst hätte, wie spät es war. Zwölf. Mitternacht. Der beinahe kahlköpfige Ire lächelte flüchtig in sich hinein und fügte in Gedanken das Wort Geisterstunde hinzu. Gleichzeitig huschte der Blick seiner trübe gewordenen Augen über die finsteren Silhouetten der Lagerschuppen, die sich auf der anderen Seite der Straße erhoben wie die Wehrmauer einer bizarren, mittelalterlichen Burg.
Dahinter, nur noch als Schemen vor der Farbe der Nacht zu erahnen, reckten sich die Skelette der modernen Krananlagen in den Himmel, die die Docks in den letzten Jahren zu überwuchern begonnen hatten und unaufhörlich weiterwuchsen. Manche von ihnen sahen aus wie drohend erhobene Knochenhände. Ja, dachte O’Connelly spöttisch. Für jemanden, der romantisch – oder ängstlich – veranlagt war, mochte dieses Wort gerade in einer Umgebung wie dieser alles andere als beruhigend wirken. Und dazu kamen noch die Gerüchte, die sich in den letzten Monaten hartnäckig hielten und ihren Ursprung irgendwo in diesem Viertel hatten. Ja, man konnte schon anfangen, an Geister und ähnlichen Humbug zu glauben, hier an den Docks,
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