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Hexer-Edition 15: Der Koloss von New York

Hexer-Edition 15: Der Koloss von New York

Titel: Hexer-Edition 15: Der Koloss von New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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gewesen war – ließ auch den letzten Gedanken an Gespenster und ähnlichen Firlefanz erlöschen. Gespenster pflegen keine Türen aufzubrechen, um in einen Lagerschuppen einzudringen.
    Aber was sollte er tun? Zurückgehen und die Polizei rufen?
    O’Connelly verwarf den Gedanken fast so schnell, wie er ihm gekommen war. Er würde eine halbe Stunde brauchen, das Büro der Hafenmeisterei zu erreichen, und noch einmal die gleiche Zeit, zurückzukommen. Bis dahin waren die Vögel garantiert fort – und wahrscheinlich der Inhalt des Lagerhauses auch. Melville würde ihm mit Freuden die Hölle heiß machen, wenn während seiner Schicht auch nur das Geringste geschah. Und andererseits, dachte O’Connelly listig – er musste sich ja nicht mit den Burschen anlegen, die dort drinnen gerade ihre langen und vermutlich schmutzigen Finger ausstreckten. Es reichte, wenn er sie beobachtete und einem frustriert dreinblickenden Melville am nächsten Morgen eine genaue Beschreibung oder gleich die Täter präsentierte. In seiner Zeit als Nachtwächter hatte O’Connelly so ziemlich jeden Galgenvogel kennen gelernt, den es in diesem Teil New Yorks gab.
    Behutsam setzte er seine Lampe auf den Boden, drehte das Licht herunter, bis nur noch ein blasser Schimmer übrig war, den drinnen im Schuppen garantiert niemand mehr sehen würde, und näherte sich auf Zehenspitzen der Tür. Wieder blieb er einen Moment stehen und lauschte gebannt, aber er hörte nichts und so schob er die Tür vorsichtig auf, huschte in den Schuppen und mit einer für einen Mann seines Alters erstaunlichen Behändigkeit in die Deckung eines Kistenstapels.
    Der Stapel war nicht der einzige. Der Schuppen hatte von außen klein ausgesehen, aber sein Inneres offenbarte sich als gigantischer Dom aus Holz, der schier bis zum Bersten mit Kisten und Ballen und Fässern vollgestopft war; in zwanzig Jahren war es O’Connelly nicht gelungen, eine zufrieden stellende Erklärung dafür zu finden, wie um alles in der Welt die Männer, die hier arbeiteten, die Übersicht in diesem Chaos behielten. Im Moment interessierte ihn diese Frage aber auch nicht sonderlich.
    Seine ganze Aufmerksamkeit galt der Gestalt, die sich als verwaschener Schemen vor dem Hintergrund eines gewaltigen Segeltuchballens abzeichnete. Sie war nicht einmal sehr weit entfernt – zwanzig, fünfundzwanzig Schritte vielleicht, der halbe Durchmesser des Schuppens –, aber es war so dunkel hier drinnen, dass er sie eigentlich nur an ihren Bewegungen erkannte.
    Und etwas an diesen Bewegungen war falsch.
    O’Connelly konnte das Gefühl nicht in Worte kleiden, aber ganz plötzlich spürte er eine sonderbare Art von Beunruhigung, beinahe schon Furcht, die er noch nie zuvor im Leben kennen gelernt hatte. Einfach, weil die Bewegungen der Gestalt nicht stimmten. Sie waren sehr schnell, dabei aber unglaublich ruckhaft und auf schwer zu bestimmende Weise hart; fast … ja, dachte O’Connelly schaudernd, fast wie die eines menschengroßen Insektes.
    Er verscheuchte den Gedanken, richtete sich vorsichtig hinter seiner improvisierten Deckung auf und versuchte die Dunkelheit mit Blicken zu durchdringen. Seine Augen gewöhnten sich langsam an das sehr schwache Licht, das nur durch ein paar Ritzen im Dach und zwei staubverkrustete Fenster in der gegenüberliegenden Wand hereinfiel. Soweit er erkennen konnte, war die Gestalt dort vorne allein.
    Sie bewegte sich, wie sich ein Mensch – oder eben kein Mensch – bewegen mochte, der unruhig auf der Stelle trat und vielleicht auf jemanden wartete. Möglicherweise, flüsterte eine leise, böse Stimme in O’Connellys Gedanken, auf jemanden, der gleich durch die Tür kommen musste und ihm eins überbriet. Oder auf eine ganze Menge Jemander …
    Auch diesen Gedanken dachte O’Connelly vorsichtshalber nicht zu Ende. Aber er begriff immerhin, dass er nicht mehr viel Zeit hatte, irgendetwas zu unternehmen.
    O’Connelly zog seinen Totschläger aus der Tasche, versuchte sich die Stelle einzuprägen, an der die sonderbare Nicht-Gestalt stand, und huschte in seitlicher Richtung davon. Das Chaos, das in dem Lagerhaus herrschte, war nur ein scheinbares. Zwischen den Warenstapeln gab es zahllose Gänge und Wege, die tagsüber die Arbeiter hier benutzten. Jetzt dienten sie O’Connelly dazu, den Eindringling in weitem Bogen zu umgehen und sich ihm aus einer Richtung zu nähern, aus der er sicherlich keinen Besuch erwartete.
    O’Connelly pirschte sich nahezu lautlos an die Gestalt heran.

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