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Hexer-Edition 15: Der Koloss von New York

Hexer-Edition 15: Der Koloss von New York

Titel: Hexer-Edition 15: Der Koloss von New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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wenn man das Mitternachtsschlagen hörte.
    Was O’Connelly anging, hielt er nicht sehr viel von solcherlei Gerede – genau genommen gar nichts. Ganz genau genommen hielt er alle, die auch nur einen Furz auf Gerede von Geistern und sonderbaren Lauten gaben, für leicht bescheuert. Sicher – in den letzten Wochen hatten sich sonderbare Dinge hier getan und auch O’Connelly hatte die Laute gehört, manchmal sogar eine Bewegung gesehen, ein Huschen in der Nacht, das immer gerade dann verschwand, wenn er genauer hinzusehen versuchte. Aber die sieben Jahrzehnte, die er jetzt auf dem Buckel hatte, hatten vielleicht seine Augen trübe und seine Schultern krumm werden lassen und ihm die Gicht und Hämorrhoiden und noch einige andere Zipperlein beschert – sein gewohnt logisches Denken hatten sie nicht beeinträchtigt. O’Connelly maßte sich nicht an, eine Erklärung für all die sonderbaren Dinge zu finden, die in letzter Zeit hier vor sich gingen – aber das bedeutete nicht, dass es nicht eine gab. Ratten, zum Beispiel, oder eine der zahllosen Banden, die sich seit Bestehen des Hafens schon fast traditionell hier herumtrieben … es gab tausend mögliche Erklärungen und jede einzelne davon war logischer als Geister.
    Im Grunde war O’Connelly sogar ein wenig froh über diese Gerüchte, denn sie hatten es ihm ermöglicht, seinen Job zu behalten. Melville hatte ihn noch nie leiden können und sie waren erst vor knapp drei Monaten derart aneinander gerasselt, dass Melville zum Schluss wutschnaubend gedroht hatte, ihn zu feuern und einen Jüngeren auf seinen Platz zu setzen. Aber dann waren die Gerüchte aufgekommen und plötzlich waren keine jüngeren Männer mehr da gewesen, die sich für den Job als Nachtwächter interessierten. Für O’Connellys Dafürhalten waren sie alle beknackt – gottlob. Er hätte nicht gewusst, was er ohne die paar Dollars anfangen sollte, die er sich auf diese Weise dazu verdiente.
    Nein, die einzigen Geister, vor denen sich O’Connelly fürchtete, waren verwahrloste Jugendliche und Strauchdiebe, die nachts in die Docks kamen, um zu schlafen oder ahnungslose Fremde auszurauben. Und für solcherlei Fälle trug er einen mit Sand gefüllten Lederbeutel in der Rocktasche. Der Letzte, der sich von seiner gebeugten Gestalt und seinem schütter gewordenen Haar hatte täuschen lassen, hatte seine Zähne vom Straßenpflaster aufgehoben, ehe er davongekrochen war. O’Connelly war eindeutig alt, aber er gehörte zu jener kleinen Gruppe von Alten, zu denen zum Beispiel gereizte alte Elefantenbullen gehörten; oder übellaunige Grizzlybären.
    Er nahm seine Lampe wieder an sich, vergrub die linke Hand in der Tasche seiner groben schwarzen Arbeitsjacke und schlurfte los. Genau drei Schritte weit. Dann blieb er wieder stehen, hob die Lampe ein wenig höher und lenkte den zittrigen Schein in die Schatten auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Das kalkweiße Licht brannte einen Halbkreis in die Nacht, aber er sah nichts als schmutzigen, feucht glänzenden Stein, Unrat, der sich in Ecken und Winkeln angesammelt hatte, ein wenig Schimmel, Schatten, die hastig vor dem Licht flohen und kleine zornige Pfiffe hören ließen …
    Trotzdem blieb O’Connelly weiter reglos stehen, gebannt lauschend und die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengepresst. Verdammt, er war sicher, etwas gehört zu haben; ein Geräusch, das nicht der Wind und nicht die Ratten verursacht haben konnten.
    Aber sonderbarerweise war er auch sicher, dass es kein Mensch gewesen war …
    O’Connelly wollte die Lampe gerade wieder senken und seinen Rundgang fortsetzen, als er den Laut erneut hörte. Und diesmal so deutlich, dass er erstens sicher war, sich nicht getäuscht zu haben, und zweitens auch die Richtung identifizieren konnte, aus der er kam. Seine freie Hand kroch in die Tasche und schloss sich um den improvisierten Totschläger darin.
    Als er die Straße zur Hälfte überquert hatte, sah er die offen stehende Tür. Es war nur ein schmaler Spalt und jedem anderen wäre er wahrscheinlich gar nicht aufgefallen. Aber O’Connelly kannte jeden Fußbreit Boden, jeden Schatten und jeden Schmutzfleck auf diesen Wänden seit zwanzig Jahren. Für ihn war die angelehnte Tür wie ein Hinweisschild aus Leuchtfarbe.
    Einen Moment lang zögerte der greise Nachtwächter doch, seinen Weg fortzusetzen. Er verspürte nicht direkt Angst, aber die offen stehende Tür – und vor allem das Wissen, dass sie bei seiner letzten Runde verschlossen

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